Episode 8: Karmischer Fußabdruck

Als samsarische Wesen essen wir so viele Dinge, wir stecken unsere Nasen in alles mögliche, wir haben Sex mit verschiedenen Arten von Menschen, und wir wissen nie wirklich, welche Saat wir mit all unseren Handlungen gesät haben. Ob bewusst oder unbewusst, wir schaffen ständig Vermächtnisse, verändern Welten und hinterlassen unsere Spuren.

Vor langer Zeit, an einem Ort namens Kurtoed[i], war eine Frau auf dem Heimweg von einem Trauerbesuch bei einer Familie. Als sie eine hohe Bambusbrücke überquerte, brach diese unter ihr zusammen. Sie fiel in den Fluss und wurde fortgespült, und ward nie wieder gesehen. Kurz nach dieser Tragödie pflückte ihr Mann Avocados von einem Baum und stürzte aus den Ästen in den Tod, und hinterließ fünf Waisenkinder. Dieser Mann, der auf den Baum geklettert war, hatte in seinem Leben noch nie eine Tasse Kaffee getrunken, er hatte noch nie Murakami gelesen, und seine Frau hatte noch nie Don Giovanni gesehen. Sie ahnten nicht, dass sie die Vorfahren eines Ururenkels waren, der Kaffee so sehr liebt, Murakami liest und schon oft Don Giovanni gesehen hat. Die beiden waren die Großeltern meines Großvaters.

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 Sie fiel

Eine Frau namens Ngawang Drolma nahm es auf sich, die Waisenkinder – darunter meine Urgroßmutter Sonam Drolma – dem ersten König von Bhutan zu übergeben. In Bhutan gibt es bis heute den Brauch, Waisenkinder an Institutionen zu übergeben. Viele landen in Klöstern, aber dieser kleine Haufen arbeitete schließlich im Haushalt des Königs.

Ngawang Drolma war wie eine Figur aus einem klassischen englischen Roman, eine Grande Dame, eine Thromde-Frau[ii], sehr mächtig. Jemand sollte wirklich einen Roman über die bhutanische Familiendynamik schreiben. In Bhutan gab es zudem den Brauch, dass ein Haus und Land, um das sich keine Erwachsenen mehr kümmern konnten, von einer anderen Familie übernommen wurde, was ihr sehr gelegen kam.

Kurtoed ist ein abgelegener Teil des Distrikts Lhuntse, aber damals war es aufgrund seiner Grenznähe zu Tibet im äußersten Nordosten des Landes ein politisch und wirtschaftlich wichtiger Stützpunkt. Sie war eine der ältesten Provinzen Bhutans. Viele unserer früheren Staatsoberhäupter stammten von dort. In meinen Papieren steht, dass ich in Kurtoed geboren wurde, weil nicht viele Menschen meinen wahren Geburtsort kannten, das versteckte Tal von Artemisia, Khenpajong.

Aus Kurtoed zu stammen, war damals wie aus einer reichen Hafenstadt wie Hamburg oder einem kosmopolitischen Zentrum wie London zu sein, da man von dort aus Zugang zu Tibet hatte. Es hatte seine eigene Kurtoepa-Sprache[iii], die in meinen Ohren – vielleicht bin ich durch meine Kindheitserinnerungen voreingenommen – die klangvollste und melodischste aller Sprachen ist. Kurtoepa-Mädchen galten als schön und gute Partie, aber ich habe das Gefühl, dass dies etwas mit dieser Sprache zu tun hatte. Eine Sache, an die ich mich in Bezug auf die Kurtapas erinnere, sind die klassischen bhutanischen Gerichte wie Ezay[iv] und Hogay[v]. Wenn sie von einem Kurtoepa zubereitet werden, insbesondere von Männern und Frauen mittleren Alters, sind diese Gerichte herausragend. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in Bhutan versuche ich immer, meine Tante Dorji Yangki zu besuchen, die eine sehr gute Kurtoepa-Köchin ist.

Ich bin nicht in Kurtoed aufgewachsen, aber die Kurtoepa, die meine Familie begleiteten, erzählten mir endlos von der Pracht Kurtoeds, sodass mir dieser Ort sehr vertraut war. Es wurde immer von zwei großen Kurtoepa-Familien gesprochen: den Roolings und den Thunpes. Sie lebten in Naksthang, einer Art bhutanischem Schloss oder Herrenhaus, von dem die Menschen sprachen, als wären es die großen Schlösser Europas. Es gab ein Haus namens Dungkar Chhoejey, das Stammhaus der heutigen Königsfamilie. Jedes Haus hatte Bedienstete, die dem Hausbesitzer im Grunde gehörten, Menschen wie meine Großmutter. Die Überreste dieser Dienerkultur sind in Bhutan bis heute lebendig, was sehr traurig ist. Sie scheinen von dieser Gewohnheit einfach nicht loszukommen.

Als Ngawang Drolma sich für die Waisenkinder einsetzte, befand sich Kurtoed auf seinem historischen Höhepunkt. Meine Urgroßmutter war die älteste der fünf Waisenkinder, und weil sie sehr klug war und viele Aufgaben im Palast übernehmen konnte, wurde sie Teil des inneren Kreises der königlichen Familie. Und so kam es, dass sie mit einem Kind königlichen Blutes schwanger wurde; wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, wer der Vater war. Dieses Kind war mein Großvater, Lama Sonam Zangpo.

Sir Ugyen Wangchuk and his family, 1905

Sir Ugyen Wangchuk und seine Familie, 1905

In Tibet und Bhutan gibt es keinen Brauch über die Familiengeschichte Buch zu führen. Daher basieren die meisten historischen Daten auf Hörensagen und die Fakten sind unklar. Wenn man Menschen nach ihrem Geburtsdatum fragt, antworten sie meist mit „im Jahr des Affen“ oder einem anderen Tierkreiszeichen aus dem Mondkalender, und der Fragende muss dann anhand des Aussehens auf das Alter schätzen – wenn jemand etwa vierzig ist, nimmt man an, dass er vor vier Affenjahren geboren wurde. Andere Menschen verwenden möglicherweise Jahreszeiten oder besondere Ereignisse, um die Frage nach ihrem Geburtsdatum zu beantworten. So sagen sie etwa: „Ich wurde vor zehn Frühlingen geboren“ oder „Ich wurde im Jahr vor dem Waldbrand geboren“.

Bis zum Aufkommen der Globalisierung, also bis vor kurzem haben wir in Bhutan nie Geburtstage gefeiert. Aber jetzt höre ich von Partys, zu denen die Elite sogar Smokings trägt und Kuchen aus Bangkok bestellt. Sie sind ganz versessen auf Geburtstagsfeiern.

Gemini ready to travel

 Zwillinge bereit zum Reisen

Ich selbst habe mein tatsächliches Geburtsdatum erst mit etwa 20 Jahren erfahren, als ich einen Reisepass beantragen musste. Mit Hilfe der Erinnerungen meiner Tanten, der Schüler meines Großvaters und anderer Begleiter fanden wir heraus, dass es im Juni war. Bis dahin hatte ich aufgrund einer Bemerkung meiner Mutter immer gedacht, ich sei vielleicht im Juli geboren. Ich ließ sogar ein komplettes Horoskop erstellen, als wäre ich Krebs, und es schien vollkommen zuzutreffen. So ist das eben mit der Astrologie. Aber ich glaube, das war ein Missverständnis, das darauf zurückzuführen war, dass zwei verschiedene Kalender mit unterschiedlicher Anzahl von Monaten verwendet wurden.

Wenn uns also erzählt wird, dass mein Großvater in Kurtoed im Jahr der Wasserschlange geboren wurde, dass seine Mutter Sonam Drolma ihn drei Jahre lang geheim hielt und dass ihn das Kloster Talu im Alter von acht Jahren zum Mönch weihte oder dass er mit 16 Jahren nach Tibet wanderte, dann muss man diese Zahlen mit Vorsicht genießen.

Man könnte meinen, dass Sonam Drolma ihr Kind all die Jahre versteckt hielt, weil es ein uneheliches Kind war. Aber das war in Bhutan keine große Angelegenheit. Es gab viel größere Gefahren als der Verlust des guten Rufs. Als ich aufwuchs, wurde ich fast täglich mehrmals gewarnt, keine Lebensmittel von bestimmten Familien zu essen oder mich bestimmten Leuten zu nähern. Die Bediensteten meines Großvaters flüsterten und versteckten sich, wenn bestimmte Personen in die Nähe kamen. Viel später erzählten sie mir den Grund dafür. Zu jener Zeit gab es in Bhutan, besonders im Osten, viele Fälle von Vergiftungen, weil man gemeinhin glaubte, dass man der Qualitäten anderer habhaft würde, wenn man sie vergiftete. Es ist also wahrscheinlicher, dass Sonam Drolma befürchtete, der Junge könnte vergiftet werden, wenn die Wahrheit über seine königliche Abstammung bekannt würde.

Es gab und gibt immer noch Menschen, die höher geborenen Personen und insbesondere hilflosen Babys absichtlich Gift verabreichen. Diese Babys haben zwar gewisse Kräfte, können sich aber nicht verteidigen. Einige dieser Zauberer konnten mit nur einem Blick Kräfte an sich reißen, andere taten das mit einer speziellen giftigen Berührung. Einige dieser Familien leben noch immer im Osten Bhutans, werden aber sozial ausgegrenzt. Doch all diese Hexen und Zauberei verschwinden allmählich, da die Welt immer materialistischer wird.

Auch Kurtoed ist verblasst. Die meisten Bessergestellten aus Kurtapa sind inzwischen an Orte wie Thimphu gezogen; nur wenige der Schlossherren und -herrinnen sind übriggeblieben. Mit Anfang 30 reiste ich nach Kurtoed, um das Dorf meines Großvaters zu besuchen. Ich freute mich darauf, endlich das prächtige Naktshang der Roolings und Thunpes zu sehen. Jahrelang hatte ich sie mir vorgestellt wie die berühmten Anwesen in Romanen, Netherfield der Bingleys und Longbourn der Bennets in Stolz und Vorurteil.

English Manor House

 Englisches Herrenhaus

Zu meiner großen Enttäuschung stellte sich heraus, dass Naktshang nur aus zwei Häusern bestand, die direkt nebeneinander lagen. Von Ruhm keine Spur. Das lässt mich über all die Berichte nachdenken, die ich früher über Kurtoed gehört habe.

Wie der Buddha sagte: Was aufgetürmt ist, wird zusammenfallen, was zusammenkommt, wird zerlegt, was geboren wird, wird sterben. Ich denke, Kurtoed spiegelt diese Wahrheiten wider. Aber das hält die Menschen nicht davon ab, an ihren Erinnerungen festzuhalten.

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[i]  Kurtoed, ausgesprochen „ker-toe”, wird auf Karten manchmal als Kurtoe und auf viele andere Arten geschrieben.

[ii] Ein Thromde (khrom-sde) ist eine Verwaltungseinheit der zweiten Ebene in Bhutan.

[iii] Auf Dzongkha heißt sie Kurtoep oder Kurtoepa Sharchhop.

[iv] Die übliche bhutanische Chilisauce.

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[v] Ein Gurkensalat mit Chili, Käse und Szechuan-Pfeffer.

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Fähigkeiten

Gepostet am

März 20, 2017