Herr Mao war ein großer, breitschultriger, gut gebauter Chinese. Er war bereits über siebzig Jahre alt und hatte bis auf einen dünnen grauen Haaransatz, der von einem Ohr zum anderen reichte, eine Glatze. Dennoch verliehen ihm seine frische, rosige Hautfarbe und sein verschmitztes Grinsen die Aura eines schelmischen Teenagers, der ständig in Schwierigkeiten geriet.
Übrigens unterschied sich mein Herr Mao ziemlich von dem anderen Herr Mao aus Hunan, der berühmt wurde, weil er Millionen Chinesen aus den Fesseln der grausamen Feudalherrschaft befreit hatte, und berüchtigt für die kaltherzige, unumkehrbare Dummheit der Kulturrevolution.
Mein Herr Mao stammte aus Tai Chung in Taiwan und war Anhänger des Buddhadharma. Da seine Weltanschauung von taoistischen Überzeugungen durchdrungen war, vermute ich, dass er erst relativ spät im Leben zum Buddhismus gefunden hatte. Andererseits war er alles andere als ein Vollblut-Taoist (was unter Chinesen häufig anzutreffen ist), aber ich habe nie den Mut aufgebracht, ihn dazu zu befragen. Als ich Herrn Mao kennenlernte, hatte er eine fast schamanistische Art des taoistischen Denkens angenommen, die mit einem Hauch buddhistischer Bestrebungen daherkam, welche er erheblich anreicherte, als die Taiwaner begannen, sich ganz im Trend für den erneut wiederentdeckten tantrischen Buddhismus zu begeistern.
Die Taiwaner sind ein ungewöhnlich herzliches Volk, und diese Herzlichkeit soll ein Erbe des Konfuzianismus sein. Es gibt sogar ein Wort dafür: „Ren-ai“. Wenn man sich eine Karte von Taiwan ansieht, findet man die Gemeinde Ren-ai, den Bezirk Ren-ai, Ren-ai-Restaurants und sogar eine Ren-ai-Straße in Taipeh. Herr Mao strahlte ren-ai aus. Er war warmherzig, freundlich und großzügig und widmete sich ganz Buddhas Dharma. Aber er hatte auch eine große Schwäche. Es war ihm fast unmöglich, gutem Essen und großen Mengen an hochprozentigem Alkohol zu widerstehen. Asiaten, und vor allem chinesische Buddhisten, beurteilen oft anhand des Verhaltens einer Person (gute Buddhisten essen kein Fleisch und trinken keinen Alkohol usw.), ob sie ein echter Buddhist ist, und nicht danach, wie oft sie über die Vergänglichkeit und die Illusion des Lebens nachdenkt. Das Verhalten und das gute Benehmen, ihr eigenes und das anderer, ist ihr Maßstab für einen „guten“ Buddhisten, nicht das Spektrum der „richtigen“ Sichtweise eines Menschen. Kein Wunder, dass Herr Mao verlegen errötete, wenn er sich mit schwerem Essen vollgestopft oder mit Sake betrunken hatte, als wollte er sagen: „Ich weiß, ich weiß, und es ist wahr. Ich bin wirklich der schlechteste Buddhist auf Erden.“
1984 war ich noch jung und begann gerade, die Welt außerhalb meiner himalayischen Heimat zu erkunden. Ich habe mich oft gefragt, ob meine Begeisterung für alles, was nicht ganz ethisch oder gesund war, mich zu Herrn Mao hingezogen hat. Was auch immer es war, wir wurden bald enge Freunde, wobei wir uns vor allem über Männerthemen austauschten, die wenig mit dem Dharma zu tun hatten.
Wie viele Taiwaner seines Alters war Herr Mao von allem Japanischen fasziniert und sprach ununterbrochen über Japan (obwohl Japan Taiwan zu Beginn des 20. Jahrhunderts besetzte, was bis heute Spuren hinterlassen hat). Für Herrn Mao war alles Japanische, die Berge, die Bäume, die Tempel, „fabelhaft“, „perfekt“, „nicht von dieser Welt“, und die Japaner waren immer elegant und sahen wunderschön aus (er redete ununterbrochen darüber). Er liebte es auch, mit seinem in meinen Ohren fließenden Japanisch zu prahlen. Anstatt mit dem üblichen chinesischen „Wai!” ans Telefon zu gehen, bellte er „Moshi Moshi!”, was viele seiner Freunde nervte, die gemischte Erfahrungen mit Japanern zu jener Zeit gemacht hatten.
Als wir uns zum ersten Mal trafen, war Herr Maos Begeisterung, mir alle Aspekte der japanischen Kultur näherzubringen, so groß, dass er beschloss, für uns beide eine Reise nach Tokio und Kyoto zu spendieren. Und um ehrlich zu sein, musste er mich nicht lange überreden. Ich war mehr als begierig darauf, diese magische Welt mit eigenen Augen zu sehen.
Bis dahin war mein Wissen über Japan eher lückenhaft. Ich bin in Indien aufgewachsen und hatte schon früh gelernt, das Label „Made in Japan“ zu respektieren (damals war die Marke Seiko genauso begehrt wie heute Patek Phillippe), da ich überzeugt war, dass es für höchste Qualität stand. Aus amerikanischen Filmen wusste ich ein wenig über Pearl Harbor, obwohl mir die Darstellung der japanischen Brutalität unangenehm war. Ich hatte auch davon gehört, dass die USA Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten, aber das Ausmaß des Grauens war mir zunächst nicht bewusst gewesen.
Ich betrat das Land der aufgehenden Sonne zum ersten Mal in einer nasskalten Nacht im Dezember 1984. Herr Mao hatte alles organisiert. Mit der Energie eines wahren Fanatikers buchte er für uns eine Busreise nach der anderen. Wir standen vor Sonnenaufgang auf und kehrten selten vor Sonnenuntergang in unsere Hotelzimmer zurück, da wir uns einer Reihe von tatkräftigen Reiseleitern anvertraut hatten, die uns zu so vielen berühmten Sehenswürdigkeiten, Gärten und Einkaufsvierteln begleiteten, wie es nur irgend menschenmöglich war.
Unser Hotel gab uns die vermutlich kleinsten Gästezimmer der Welt. Trotzdem fand ich darin alles, was ich brauchte, darunter eine Zahnbürste, einen Kamm, Hausschuhe und, wie durch ein Wunder, einen Fernseher. Das japanische Fernsehen faszinierte mich, und statt zu schlafen, schaute ich oft bis zum Morgengrauen fern. Auf diesem winzigen Fernsehbildschirm sah ich zum ersten Mal Momoe Yamaguchi, die japanische Schauspielerin, die in Katsumi Nishikawas „Izu no Odoriko“ mitspielte, und verliebte mich sofort in sie. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Film zu jener Zeit in Japan eine große Fangemeinde hatte, und erst viel später erfuhr ich, dass er auf einer Geschichte des Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata basierte.
Angesichts meines Alters war es nicht verwunderlich, dass meine Verehrung für die umwerfende Momoe Yamaguchi schon bald von einer noch größeren Bewunderung für die bezaubernde Setsuko Hara abgelöst wurde, die mir bis heute als eine der inspirierendsten japanischen Frauen in Erinnerung geblieben ist, die ich je gesehen habe. Aber manchmal frage ich mich, ob sie einen so starken Einfluss auf mich hatte, weil sie an sich so beeindruckend war oder weil sie von dem großartigen Yasujiro Ozu so exquisit inszeniert wurde.
Herr Mao war besonders daran interessiert, mir das berühmte Nachtleben Tokios näherzubringen, obwohl ich zugeben muss, dass meine erste Erfahrung mit Asakusa in der Altstadt ein kleiner Kulturschock war. Aber ich gewöhnte mich schnell daran und erkundete Tokio bei Nacht bald genauso begeistert wie Herr Mao. Wenn wir nicht gerade durch Asakusa streiften, probierten wir die Köstlichkeiten von Harajuku, wo japanische Mädchen die höchsten und klobigsten Plateauschuhe trugen, die je hergestellt wurden, und Miniröcke, die so kurz waren, dass sie eher wie Gürtel aussahen.
Das Karaoke-Phänomen hatte gerade in Japan Fuß gefasst und verbreitete sich von hier aus schnell nach Taiwan, Korea und den Rest Asiens. In den frühen 80er Jahren war Karaoke also sehr angesagt, und Herr Mao liebte es. Er starrte staunend auf den Karaoke-Bildschirm, folgte aufmerksam den Liedtexten und sang aus voller Kehle mit. Zuerst war mir das peinlich für ihn, weil er wirklich schlecht sang. Dann fiel mir auf, dass Männer wie Herr Mao in diese Bars gingen, um sich selbst zu vergessen und all ihre Hoffnungen, Ängste, Lieben und Wünsche in ihren Gesang zu legen. Sie fanden hier wahrscheinlich die einzige Gelegenheit, sich auszudrücken. Die Videos, die sie sich beim Singen ansahen, zeigten beliebte Sänger, darunter die neuesten Teenager-Idole, und die Lieder, zu denen sie mitsangen, handelten fast immer vom Ver- und Entlieben. Mich faszinierte, wie befriedigend es für diese engagierten Karaoke-Sänger war, sich über den Videobildschirm das Aussehen und die Darbietungen junger Menschen (einschließlich der musikalischen Arrangements und Begleitmusiker) auszuleihen und dann einfach immer und immer wieder mitzusingen. Es war oft Mitternacht, manchmal sogar später, wenn Herr Mao und ich in unser Hotel zurückkehrten, er zu seinem Bett, ich zu meinem Fernseher.
Als Buddhist erfüllten mich die großen Zen-Tempel wie Daitokuji oder Sanjusangen-do in Kyoto mit Stolz. Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, als ich erfuhr, dass der spektakulär schöne Kiyomizu-dera-Tempel ein Sitz der Chittamatra-Schule ist. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass die Chittamatra-Philosophie, die wir als Teenager studiert hatten, noch immer offiziell mit einem Tempel verbunden war. Dennoch dauerte es nicht lange, bis mir klar wurde, dass die Japaner ihre Wertschätzung für den Buddhadharma und die buddhistischen Werte fast vollständig verloren hatten, und zum ersten Mal empfand ich eine tiefe Traurigkeit über ihren Verlust. Die makellosen Tempel und kühlen, anspruchsvollen Zen-Gärten von heute sind zwar von exquisiter Schönheit, aber leer.
Hoch oben in den Ausläufern des Himalaya, wo ich aufwuchs, pulsierte das spirituelle Leben in den meisten Tempeln. Durch die unordentlichen und belebten Tempelgebäude wuselten Mönche, Nonnen, Yogis und Gläubige, die Wände und Decken waren schwarz von Ruß der über Jahrhunderte täglich dargebrachten Butterlampen, und die Luft schwer von Weihrauch, da immer irgendeine Puja stattfand. Ganz anders in Japan, wo es nur wenige Mönche und Nonnen gab und die Tempel kaum mehr als makellos gepflegte Denkmäler japanischer künstlerischer Integrität waren. Manchmal frage ich mich, ob in fünfzig Jahren die traditionellen tibetisch-buddhistischen Tempel, die Lamas derzeit überall auf der Welt errichten, ebenfalls zu kulturellen Mausoleen werden.
Japan ist ein außergewöhnlich teures Land, und Herr Mao war nicht gerade der reichste Mann. Da klar war, wie viel er für mich ausgab, hielt ich an meiner Entscheidung fest, meine Reise kurz zu halten. Vielleicht war es gerade die Kürze unserer Zeit in Japan, die Herrn Mao dazu inspirierte, jeden unserer Tage mit so vielen Besichtigungen und Shoppingtouren anzufüllen. Und da ich auch mein kleines Fernsehgerät optimal nutzte, schlief ich kaum.
Ein- oder zweimal wagte ich mich alleine hinaus, verirrte mich jedoch oft und musste nach dem Weg fragen. Alle, die ich ansprach, waren sehr bemüht, mir zu helfen, was mir ein schlechtes Gewissen bereitete, weil ich sie belästigte. Ein sehr freundlicher Mann begleitete mich über zwei Meilen, um sicherzustellen, dass ich die richtige Adresse fand.
Während einer meiner Soloausflüge fiel mir auf, wie makellos Straßenbauarbeiten und Baustellen in Japan waren. Ob Straßen repariert, Telefonleitungen verlegt oder Wolkenkratzer gebaut wurden – der Bereich, in dem die Arbeiten stattfanden, war immer makellos und ordentlich, die Werkzeuge und Materialien säuberlich gestapelt und aufgeräumt. Ich warf einen Blick in die Busse, in denen die Ausrüstung der Arbeiter untergebracht war, nur um die ordentlichen Reihen der beschrifteten und nummerierten Werkzeuge zu bestaunen, und oft wünschte ich mir, dass die Mönche zu Hause ebenso ordentlich und gut organisiert wären – insbesondere die Mönche, die sich um die Schreine und Tempel kümmerten. Zu meiner Überraschung stellte ich außerdem fest, dass neben einer Armee von erfahrenen Bauarbeitern auf jeder Baustelle zwei bis vier Verbindungsbeamte beschäftigt waren, die ihren gesamten Arbeitstag damit verbrachten, Passanten um Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten zu bitten, die ihnen durch die Baustelle entstanden.
Und dann waren da die Parkwächter. Viele Gebäude in japanischen Städten haben Tiefgaragen. Wenn ein Auto in die Tiefgarage einfährt oder diese verlässt, erscheint sofort ein Team von Parkwächtern, um es hinein- oder hinauszugeleiten und Passanten um Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten zu bitten. Ich kann mir so etwas nirgendwo anders auf der Welt vorstellen, vor allem nicht in Indien oder New York. Die meisten Unternehmen würden einen solchen Service als Verschwendung von Ressourcen und Arbeitszeit betrachten. Aber genau diese Liebe zum Detail macht Japan zu Japan.
Der einzige Ort, an dem ich mich nie verirrte, war der Bahnhof Shinjuku. Trotz des weitläufigen Labyrinths aus Bahnlinien ist Shinjuku so gut gestaltet, dass ich keine Japanischkenntnisse benötigte, um mich zurechtzufinden. Da ich aus einem Land komme, in dem Züge immer verspätet sind – manchmal um eine Woche oder mehr –, war ich erstaunt, dass japanische Züge nicht nur pünktlich, sondern sogar auf die Sekunde genau fahren.
Besonders haben es mir die trendigen und hippen Viertel von Tokio wie Shinjuku oder das schicke Omotesando angetan, voller modebewusster junger Leute, von denen viele wie Figuren aus Manga-Comics gekleidet sind. Oft hatte ich das Gefühl, meine Blicke klebten an den Outfits, mit denen sich die jungen Leute zeigten, insbesondere die Jungen. Es war einfach umwerfend, wieviel Liebe zum Detail, Zeit und Mühe sie in ihre Kleidung investierten, um auszugehen! Ein Junge trug beispielsweise einfach nur eine blaue Jeans mit Gürtel, ein weißes Hemd und einen schön geschnittenen schwarzen Blazer, dazu eine lässig über die Schulter geworfene Tasche, aber wahrscheinlich hatte er mindestens eine Stunde, wenn nicht sogar mehr, damit verbracht, diesen Look genau richtig hinzubekommen.
Einmal, als ich in einem überfüllten Waggon Platz nahm, fiel mir ein eleganter Fuß in einem Sneaker auf. Selbst aus meiner Sicht war dieser Sneaker ein Kunstwerk. Ich warf einen Blick auf den anderen Fuß des Trägers und schaute dann noch einmal hin. Es war ein Loafer – ein Loafer, der genauso schön war wie der Sneaker, aber dennoch ein Loafer. Dann bemerkte ich, dass der Fuß mit dem Sneaker eine Tartan-Socke trug und der Fuß mit dem Loafer eine einfache karierte Socke. Neugierig geworden, ließ ich meinen Blick langsam über den Körper des Mannes vor mir wandern. Seine schwarze Jeans, die unterhalb des Knies modisch zerfetzt war, um seine Socken zu zeigen, war hauteng und wurde von einem breiten, weichen Ledergürtel mit einer großen Metall-Cowboyschnalle gehalten. Über einem violetten Rollkragenpullover aus Feinstrick trug er einen gestreiften indigoblauen Blazer. Als er sich an einem Hängegriff festhielt, um nicht zu fallen, sah ich, dass er an jedem Finger und Daumen Ringe trug und an seinen Handgelenken Armbänder. Um das Ganze abzurunden, saß ein schwarzer Caballero-Hut formvollendet auf seinem Kopf und eine lange schwarze Haarsträhne hing ihm bis zur Mitte des Rückens. Alles in allem ein Meisterwerk.
Als mein Abreisetag näher rückte, wurde mir klar, dass ich jede Sekunde, die mir in diesem außergewöhnlichen Land noch blieb, optimal nutzen sollte. In jener Nacht, lange nach Mitternacht, saß ich wieder einmal in einer überfüllten U-Bahn und ließ meine mittlerweile müden Augen über wunderschöne Taschen, Schuhe, Jacken, ausgefallene Maniküren und alle möglichen Arten von Hüten schweifen. (Heute wären alle in ihre Handys vertieft. Damals steckten sie ihre Nasen in Manga-Comics.)
Plötzlich, am anderen Ende des Waggons, meinte ich … Nein, ich war mir sicher, dass ich … Konnte das sein? Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können. Ja! Der große Fudo Myo-o saß in genau diesem Wagen. Schwarz, gut gebaut und muskulös, jede Menge lockiges Haar auf dem Kopf, ein Zopf hing über seiner linken Schulter und seine beiden Reißzähne waren deutlich zu sehen, einer zeigte nach oben, der andere nach unten. Für einen Moment stand die Zeit still. Dann musste ich wegsehen, da mich die dieser flüchtige Anblick überwältigte. Einige Sekunden lang konnte ich mich kaum dazu bringen, aufzublicken. Dann, von Neugierde getrieben, hob ich den Blick, um noch einmal hinzuschauen. Aber er war verschwunden.
War er ein Phantom? Eine Fata Morgana? Eine Vision? Wer weiß. Ich fragte mich damals, ob das Erscheinen dieser Gestalt die Folge meiner Erschöpfung war, die durch unseren anstrengenden Tagesablauf verursacht worden war. Oder vielleicht eine Auswirkung der unzähligen Fernsehsendungen, die ich verschlungen hatte und von denen die meisten von Samurai, Ninja und Yakuza handelten, deren tätowierte Körper oft wilde Darstellungen von Fudo Myo-o zeigten. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hatte er mich während des gesamten Besuchs beschäftigt, insbesondere seit mir Herr Mao auf einer Busreise erzählte, dass Japan seine ganz eigene Form des Vajrayana-Buddhismus hat. Als Anhänger des Vajrayana begeisterte mich diese Entdeckung, und von da an opferte ich bereitwillig mehrere Restaurantbesuche und Shoppingtouren, um ein oder zwei der großen tantrischen Schreine Japans zu besuchen.
Während dieses Besuchs wurde ich zum ersten Mal (auf einer Reise voller Premieren) mit dem Shingon-Buddhismus bekannt gemacht. Die Komplexität der Shingon-Mandalas und die makellosen, sorgfältig gestalteten, wunderschön arrangierten Schreine unterschieden sich so sehr von indischen und tibetischen Tempeln, wie es nur möglich war, und sie faszinierten mich. Wie der große japanische Schriftsteller Jun’ichiro Tanizaki in seinem Essay „Lob des Schattens“ schrieb:
In den Räumen von mächtigen Tempelbauten wird das Licht wegen des großen Abstands zum Garten noch weiter verdünnt, und – sei es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, sei es ein heiterer oder ein bewölkter Tag, sei es Morgen, Mittag oder Abend – das matte Weiß zeigt kaum eine Veränderung. In jedem Rechteck der mit dichtstehenden, senkrechten Leisten versehenen shōji bilden sich Schattenwinkel, gerade als ob sich Staub abgelagert hätte; man fragt sich verwundert, ob sie denn ewig unbewegt auf dem Papier haften bleiben. In solchen Augenblicken zweifle ich an der Wirklichkeit dieser traumhaften Helle und zwinkere mit den Augen. Das Gefühl drängt sich auf, vor den Augen sei ein nebelhaftes Flimmern, das die Sehkraft abstumpft. Es liegt daran, daß der Widerschein des mattweißen Papiers die dichte Dunkelheit der Wandnische nicht zu verscheuchen vermag, sondern im Gegenteil, vom Dunkel zurückgeworfen, eine sinnverwirrende Atmosphäre erzeugt, in der sich Helle und Dunkelheit nicht auseinanderhalten lassen. Haben Sie, meine Leser, beim Betreten eines solchen Raumes nicht auch schon das Gefühl gehabt, das darin schwebende Licht sei kein gewöhnliches Licht, sondern habe etwas besonders Ehrfurchtgebietendes, Gewichtiges an sich? Oder hat Sie nie eine Art Schauder vor dem «Ewigen» erfaßt im Gedanken, daß Sie während des Aufenthalts in diesem Raum das Zeitgefühl verlieren könnten, daß unbemerkt Jahre verstreichen und Sie als weiß-haariger Greis daraus hervortreten könnten?
Die Wirkung dieser japanischen Schatten war gewaltig. So wie japanische Jungen sich enorm viel Mühe mit ihrem persönlichen Erscheinungsbild gaben, mussten auch die alten japanischen Shogune, Samurai, Kaiser und einfachen Bürger ihr ganzes Herzblut in jedes Detail ihrer Tempel gesteckt haben, einschließlich der Anordnung der Fenster, damit das Sonnenlicht genau auf den Schrein fiel.
Viele Shingon-Tempel beherbergen unglaublich beeindruckende Statuen und Mandalas. Überall, wo ich hinkam, sah ich Mandalas des Mahavairocana-Sutra und des Vajrashekhara-Sutra[1], umgeben von Darstellungen der Hauptgottheiten und ihrer Gefolge. Doch selbst in solch illustrer Gesellschaft waren die Statuen und Gemälde von FudoMyo-o unübersehbar. Als vielleicht beliebteste und begehrteste aller japanischen Gottheiten sind sein Gesicht und seine Gestalt unverkennbar – ob in Stein gemeißelt, an Wände gemalt, aus Holzblöcken gedruckt oder in Kalligraphie beschrieben.
Im Gegensatz zu Indiens geliebtem Nataraja, dem tanzenden Shiva, der für seine sinnlichen Kurven, die geschmeidige Kraft seiner schlanken Gliedmaßen, seine breiten Schultern und die perfekte Haltung seines anmutig erhobenen linken Fußes verehrt wird, wirkt Fudo Myo-o düster bedrohlich, mächtig, ja sogar beunruhigend. Obwohl einige der Statuen, die ich in Japan gesehen habe, ihn mit beiden Augen offen und unter einem grimmigen Stirnrunzeln hervorquellend zeigten, oder mit einem Auge nach oben und dem anderen nach unten blickend, zeigt das Bild, das ich am besten kenne, ihn mit einem offenen und einem geschlossenen Auge. Sein Mund verzieht sich wie ein chinesischer Drache oder ein Frosch, oft auf einer Seite offen, die andere fest verschlossen, während seine Reißzähne der Richtung seiner Augen folgen, einer zeigt nach oben, der andere nach unten. Ein Großteil seiner dicken, lockigen Haare ist locker zu einem Knoten zusammengebunden, wobei eine einzelne Strähne geflochten und über seine linke Schulter nach vorne gezogen ist. In seiner rechten Hand hält er ein Schwert und in seiner linken eine Seilrolle. Schwarz oder dunkelblau, ist er kräftig gebaut und sieht sowohl unbeweglich als auch bereit aus, sofort in Aktion zu treten. Ob er inmitten eines Flammeninfernos sitzt oder steht, er beherrscht den Raum um sich herum mit vollkommener Autorität. Wenn ihr euch jemals in einem Raum befindet, in dem das Bild von Fudo Myo-o hängt, werdet ihr für niemanden sonst Augen haben.
Damals hatte ich kaum eigenes Geld, und das Wenige, das ich hatte, gab ich für Postkarten und Drucke von Fudo Myo-o aus. Ich wollte ihn allen zeigen, einfach weil er so großartig war – vielleicht so, wie manche Leute ihre schönen, charismatischen Freunde auf Bällen oder Dinnerparties zur Schau stellen.
Ich praktiziere Arya Achala seit meinem sechsten Lebensjahr und verbrachte als Kind viele Stunden damit, wunderbare Geschichten über ihn zu hören. Atisha Dipamkara beispielsweise segelte einmal von Indien nach Indonesien, um Dharmakirti darum zu bitten, über Freundlichkeit zu lehren. Als das Schiff die Bucht von Bengalen verließ, um vermutlich durch die Straße von Malakka zu segeln, kam ein so heftiger Sturm auf, dass das Schiff zu sinken begann. Atisha betete umgehend zu Arya Achala (so heißt Fudo Myo-o in Indien) und innerhalb von Sekunden stand dieser vor ihm, bis zur Hüfte im Meer, und hob das Schiff über die tosenden Wellen. Mit solchen Geschichten bin ich aufgewachsen.
Seit Herr Mao mir dieses elegante Land vorgestellt hat, habe ich die japanische Kultur, Bücher, Filme, Musik und so weiter immer tiefer erkundet. Inzwischen habe ich viele englische Übersetzungen von Yukio Mishimas Romanen gelesen und in seinem Tonkatsu-Lieblingsrestaurant in Tokio gegessen. Ich habe eine Reihe von Geschichten von Yasunari Kawabata gelesen, Kokoro von Natsume Soseki gehört und die Filme von Yasujiro Ozu gesehen. Was für großartiger Künstler! Ohne seine Kamera auch nur einen Zentimeter zu bewegen, kann ein Haufen schmutziger Wäsche einen zu Tränen rühren oder zum Lachen bringen. Ich habe mehrere seiner Filme ein Dutzend Mal oder öfter gesehen und bin jedes Mal anschließend in eine Depression gefallen, weil ich weiß, dass ich niemals an seine außergewöhnlichen Fähigkeiten heranreichen kann.
Traditionelle japanische Gourmetküche ist nicht so mein Fall; mein Gaumen hat noch nicht das nötige Feingefühl entwickelt, um diesen Kochstil zu schätzen. Es gibt fast zu viel zu bewundern: die Anordnung der Speisen, die Farbkombinationen, die Größe der Portionen, der Geschmack und so weiter. Da ich aus einer eher rustikalen Kultur stamme, greife ich lieber zu einer Schüssel Ramen im Hakata Nagahama Ramen Miyoshi in Kyoto, als eines der vielen japanischen Restaurants mit drei Michelin-Sternen auszuprobieren.
Ich habe Japan inzwischen so oft besucht, dass ich mich gar nicht mehr an jede einzelne Reise erinnern kann, und meine Bewunderung für die japanische Präzision, Ordnung, Liebe zum Detail und natürlich ihre Eleganz und Etikette ist nur noch gewachsen. Einmal verbrachte ich eine Woche in einem Dorf am Rande von Tokio, das für seine heißen Quellen bekannt ist. Der Bahnhof des Dorfes war winzig und die Soba-Nudelbar, die in eine seiner Ecken gequetscht war, war noch winziger – aber die Japaner sind ja unübertroffene Meister darin, selbst kleinste Räume optimal zu nutzen. Ich habe oft in dieser Nudelbar gegessen, und die Qualität des Essens war immer ausgezeichnet. Nicht ein einziges Mal variierte oder verschlechterte sich die Konsistenz der Nudeln oder der Geschmack der kalten Soße. Ich nahm mir ein Buch mit und saß stundenlang da, las, beobachtete die Leute und trank Kaffee. All dieser Kaffee führte dazu, dass ich mindestens einmal, wenn nicht sogar zweimal oder öfter auf die Toilette musste, aber egal, wie oft ich ging, das Toilettenpapier war immer wieder zu einer ordentlichen Spitze gefaltet.
Technologisch gesehen ist Japan eines der fortschrittlichsten Länder der Welt. In den 1960er Jahren leisteten japanische Ingenieure Pionierarbeit bei der Herstellung von Hochgeschwindigkeitszügen und haben seitdem ein bahnbrechendes Schienennetz für ihre Shinkansen- oder „bullet trains” aufgebaut. Alles, was die Japaner machen, machen sie extrem gut.
Japans Form, seine Außenwelt, ist nach wie vor so elegant und wunderschön gestaltet wie eh und je. Allerdings – und ich hoffe wirklich, dass ich mich irre – befürchte ich, dass die Japaner, ähnlich wie die Chinesen (nicht nur die Chinesen auf dem Festland, sondern auch die Taiwaner, Hongkonger und Singapurer), immer mehr von ihrer inneren Kultur verlieren und sich, wenn nicht sogar für ihr Erbe schämen, ihm jedoch keine Beachtung mehr schenken wollen. Die meisten Japaner fühlen sich wohler, wenn sie bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Aufzug Chopin-Klaviermusik hören als Musik, die auf ihren eigenen Shakuhachi- (japanische Flöte) oder Koto-Instrumenten (eine halbrunde Zither) gespielt wird.
Seit der Wiedereinsetzung der Kaiserherrschaft Mitte des 19. Jahrhunderts und der Ankunft ihrer neuen amerikanischen und europäischen Handelspartner fühlen sich die Japaner zunehmend zur westlichen Kultur hingezogen. Nach dem, was ich gelesen habe, begann diese Faszination schon vor langer Zeit. Murakami schreibt oft über die amerikanischen und europäischen Schriftsteller, die er bewundert, wie J.D. Salinger und Franz Kafka, und über die amerikanische und europäische Musik, die er liebt, wie Jazz und J.S. Bach (dessen Musik er ganz korrekt mit Titel und BWV-Nummer bezeichnet). Aber ich habe noch keine Geschichte von ihm gelesen, in der er Musik erwähnt, die auf traditionellen japanischen Instrumenten gespielt wird. Es ist, als hätte sich das ganze Land den westlichen Werten ergeben. So sehr, dass die Japaner sich ihren eigenen kulturellen Traditionen wie Noh oder Kabuki offenbar genauso zuwenden wie ausländische Urlauber – aus Spaß, als Unterhaltung, zur „Entspannung”. Die Japaner sind zu Touristen in ihrem eigenen Land geworden.
Die Inder sind da ganz anders. Sie sind nicht nur stolz auf ihre Musik, sondern hören sie auch sehr gerne. Traditionelle indische Musik ertönt oft lautstark aus den offenen Fenstern indischer Häuser – ich kann mir nicht vorstellen, eine Bach-Cellosuite auf den Straßen von Varanasi zu hören. Und wo immer Inder leben, sei es in Neu-Delhi, Londons Southall oder Vancouvers Little India, gibt es immer Geschäfte, die Feuer-Puja-Sets für verschiedene Gottheiten und sogar ordentlich verpackten Kuhdung verkaufen, der für religiöse Zeremonien oder einfach als Räucherwerk verwendet wird. Als eingefleischter Reisender sehe ich indische Männer und Frauen auf allen Flughäfen der Welt, die Männer in Kurta-Pyjamas und die Frauen in Saris, mit Sindur auf der Stirn. Sie kleiden sich nicht so zum Spaß oder weil sie das Bedürfnis haben, ihre kulturellen Traditionen zu bewahren, sondern weil sie sich nun einfach immer so kleiden.
Indiens tief verwurzelte kulturelle Traditionen sind nach wie vor in den meisten weltlichen Angelegenheiten des Landes präsent. Ich habe kürzlich gelesen, dass 2020 auf dem Luftwaffenstützpunkt Ambala eine traditionelle „Sarva Dharma Puja” in die Feierlichkeiten zur Einführung neuer französischer Kampfflugzeuge in die indische Luftwaffe integriert wurde. Und auch heute noch sind völlig nackte Jain-Mönche (die sich durch den Verzicht auf jeglichen weltlichen Besitz, nicht einmal eines Dhoti, der Nicht-Anhaftung verschrieben haben) Mitglieder des indischen Parlaments.
Mein Eindruck ist, dass Inder im Gegensatz zu Japanern und Chinesen sich nicht scheuen, die ehrliche Linse, durch die sie die Welt betrachten, auf sich selbst zu richten. Im Gegensatz dazu versuchte Yukio Mishima vor etwas mehr als fünfzig Jahren, entsetzt über die spirituelle Ödnis des modernen japanischen Lebens, Mitglieder der japanischen Armee davon zu überzeugen, ihm dabei zu helfen, ihr Land gewaltsam zu seinen vor dem Krieg bestehenden Krieger-Traditionen zurückzuführen. Seine große Angst war, dass die Japaner ihre Seelen an die Amerikaner verkaufen würden. Als er scheiterte, beging er Harakiri. Wäre er nicht eingeäschert worden, würde er sich heute im Grab umdrehen.
Jedes Mal, wenn ich nach Japan zurückkehre, sehne ich mich wie ehe und je sehr danach, Herrn Fudo in einem überfüllten Zugabteil, einer kleinen Sushi-Bar oder einem eleganten japanischen Café zu begegnen. Aber meine Ausbildung in buddhistischer Philosophie erinnert mich immer wieder daran, dass diese vierzig Jahre der Sehnsucht und Hoffnung wahrscheinlich genau der Grund sind, warum ich ihn nicht wiedergesehen habe. Zumindest noch nicht. Paradoxerweise lehrt mich meine philosophische Ausbildung auch, dass die Sehnsucht und Hoffnung nach ihm meine Sadhana ist und dass ich diese niemals aufgeben sollte. So wie viele Anhänger Lord Krishnas nach Vrindavan ziehen und dann den Rest ihres Lebens damit verbringen, sich danach zu sehnen, einen Blick auf den blauen Gott zu erhaschen oder zumindest den Klang seiner Flöte zu hören, werde ich mich erneut auf den Weg ins Land der aufgehenden Sonne machen, voller Sehnsucht und Hoffnung, dass ich diesmal endlich einen weiteren Blick auf Herrn Fudo erhaschen werde.

[1] Das Sarvatathāgatatattvasaṃgraha Tantra ist in der Shingon-Tradition als Vajraśekhara Sūtra bekannt.