Episode 3: Der Beginn des Labels Khyentse Chökyi Lodrö

Das Wörterbuch beschreibt Reinkarnation als „Übergang der Seele eines Menschen in einen neuen Körper“. Diejenigen Menschen, die nicht an eine Seele glauben, und denken, dass sie nach dem Tod zerfallen, wie eine Pusteblume oder verdampfen wie das Wasser in einem Bügeleisen, können sich nicht vorstellen, dass sie in einem früheren Leben einmal ein Huhn gewesen sein sollen, das von einem Freund aufgegessen wurde. Diejenigen hingegen, die an eine unsterbliche Seele glauben, tun sich schwer, eine Wiedergeburt zu akzeptieren, wie sie im Hinduismus und Buddhismus gelehrt wird.

Dann gibt es jene Menschen, die dem Gedanken von Wiedergeburt offen gegenüber sind, jedoch in abrahamitischen Religionen aufwuchsen oder zumindest kulturell geprägt wurden, weshalb er ihnen nicht so leichtfällt, wie jemandem, der beispielsweise in Indien aufgewachsen ist. Selbst ich, der in eine Gesellschaft geboren wurde, die unerschütterlich und inbrünstig nach den Grundsätzen und Regeln von Wiedergeburt und Karma lebt, habe meine Schwierigkeiten. Ich habe keinerlei Problem an Wiedergeburt an sich zu glauben; aufgrund meines lebenslangen Studiums und der Auseinandersetzung mit dem Buddhismus, insbesondere der buddhistischen Lehren zur relativen Wahrheit bin ich zu einem Verständnis und Glauben von Wiedergeburt gelangt, der Steven Hawkings Glaube an den Urknall nicht unähnlich ist. Beide Phänomene sind gleichermaßen ungreifbar, schwer zu beweisen, äußerst praktisch, vollkommen relativ und gehören in den Bereich der hochgebildeten Thesen. Ich kann jedoch kaum glauben, dass ich eine Wiedergeburt dieses unfassbaren Wesens namens Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö bin, der seinerseits eine Wiedergeburt von Jamyang Khyentse Wangpo ist.

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Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö konnte sich nicht nur an seinen unmittelbaren Vorgänger, Jamyang Khyentse Wangpo, erinnern, sondern auch an dessen Vorgänger Jigme Lingpa. Er teilte seine Erinnerungen mit Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche, der zurechnungsfähigsten und legitimisten Vertrauensperson überhaupt. Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche fügte sie später der Biographie von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö bei. Viele, die sowohl Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö als auch Jamyang Khyentse Wangpo begegnet waren, sagten, dass Jamyang Khyentse Chökyi Lodrös Stil – was er tat, was er mochte und wie er sich verhielt – nahezu identisch war mit dem von Jamyang Khyentse Wangpo, als seien sie aus einem Holz geschnitzt.

Obwohl die Lebewesen im Jahr 1961 das Verdienst und Karma hatten, zu erleben, wie jemand in diese Welt geschickt wurde, muss es ihnen an Verdienst für eine echte Wiedergeburt von Dzongsar Jamyang Khyentse gemangelt haben, eine, die ihr früheres Leben nahtlos fortsetzen konnte, wie es Chökyi Lodrö getan hatte. Kyabje Sakya Trizin sagte oft, als Jamyang Khyentse Wangpo starb, war es, als sei er aus dem Schlafzimmer gegangen und habe als Chökyi Lodrö das Wohnzimmer betreten. Offensichtlich hatten Khyentse Chökyi Lodrös Schüler, Kyabje Dilgo Khyentse, Kyabje Sakya Trizin, Shechen Kongtrul, Shechen Gyaltsab, Kathok Situ Rinpoche, Dezhung Rinpoche und viele andere sehr viel Verdienst.

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Die Macht kollektiven Karmas ist unausweichlich. Die Nordkoreaner zum Beispiel haben das Karma von drei Generationen von Oberhäuptern regiert worden zu sein, die sie mit Slogans wie „Möge in diesem sozialistischen Land das Lied vom Großen Fischfang erklingen und möge es vom Duft von Fisch und anderen Meeresfrüchten durchdrungen sein!“

Währenddessen haben die Menschen in einem anderen sozialistischen Land das kollektive Karma in den Glauben an den Wert von Versace hineingezogen zu werden. Und viele Menschen auf der ganzen Welt haben das kollektive Karma, ihre kostbare Zeit mit dem Surfen im Internet zu verschwenden, auf ihre Bildschirme starren, und ihren Teint am Handy zu toasten, bis sie genauso bleich sind, wie der Bildschirm.

So hat auch das kollektive Verdienst und Karma meiner sogenannten Schüler, – die im Grunde nichts anderes als meine Opfer sind –, dazu geführt, dass ich heute Dzongsar Khyentse genannt werde. Wie sonst ließe es sich erklären, dass all diese Oxford- und Ivy League-Absolventen mit dreifachen Diplomen und ausgezeichneten analytischen Fähigkeiten ihre Jobs kündigen, durch die Hölle gehen, um ihre Ehepartner und Arbeitgeber zu überzeugen und Kondome verschweißen, nur um mir überallhin zu folgen?

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Karmischer Einfluss ist nichts Neues. Im 5. Jahrhundert v. Ch. hatte Ananda das Verdienst seinen eigenen Cousin Siddhartha als den Buddha zu erkennen, während es dem anderen Cousin, Devadatta, nie gelang, ihn anders zu sehen als einen gewöhnlichen Menschen.

1966 hatte Dilgo Khyentse Rinpoche das Verdienst mich, der als Kind auf seinem Schoß saß, als seinen Guru Khyentse Chökyi Lodrö zu sehen. Mir fällt es wirklich schwer, den jetzigen Khyentse Yangi als Dilgo Khyentse Rinpoche zu sehen, zumindest weil ich, wenn ich an meinen Guru denke, immer noch an Form und Größe gebunden bin.

Als ich klein war, schenkte mir jemand eine Spieluhr, die mich lange Zeit erfreute. Sie funktionierte nicht, dennoch machte sie mich glücklich. Ich trug sie viele Jahre. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen ich jemals die Fassung verlor und in Tränen ausbrach, war, als einer der Zeiger abfiel. Ich malte ihn mit einem Stift nach und trug die Uhr weiterhin. Irgendwie verschaffte mir diese Spieluhr eine gewisse Zufriedenheit, sie munterte mich auf und beruhigte mich. So müssen auch sehr viele Menschen mit mir als Faksimile Vorlieb nehmen.  Diejenigen, die mich federführend als die Wiedergeburt von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö bezeichneten, müssen dies tun im Sinne von „Da den Lebewesen das Verdienst für die Unterweisungen durch das Original fehlt, muss dieses Faksimile herhalten.“

Der Hauptverantwortliche für meine Ernennung als Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö war Kyabje Sakya Trizin, der erst 14 Jahre alt war, als Khyentse Chökyi Lodrö starb. Man erzählte mir, dass beinahe alle renommierten Meister der drei von vier Traditionslinien (Nyingma, Kagyu und Sakya) des Tibetischen Buddhismus an den Bestattungsritualen und Pujas in Tashiding beteiligt waren. Nahezu alle hatten irgendwann Unterweisungen von Khyentse Chökyi Lodrö empfangen. Nachdem die Einäscherung vollzogen war, blieben die alten Schüler in Tashiding, um sich an die nächste große Aufgabe zu machen: die Wiedergeburt ihres Gurus zu finden.

Das Kloster von Tashiding befindet sich auf einem sehr heiligen, herzförmigen Berg im Westen von Sikkim und ist der wichtigste sikkimische Guru Padmasambhava-Ort. Der dort versammelten Gruppe gehörten nicht nur Chökyi Lodrös alte Schüler an, sondern alle Mitglieder der Khyentse Labrang – Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche, Khandro Tshering Chödrön, Changdzöd Tshering Peljor und einige andere. Es war Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche, der eindeutig befand, Kyabje Sakya Trizin solle die endgültige Entscheidung über den Tulku fällen. Ich glaube, dass sich einige darüber wunderten, weil Sakya Trizin damals nur ein hübscher Junge mit türkisen Ohrringen war.

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Sakya Trizin nahm die Aufgabe an, er brauchte jedoch lange Zeit, um einen Tulku zu identifizieren. Ich kann mir die Ungeduld und sogar den Zweifel, der sich unter Chökyi Lodrös Schülern ausbreitete, lebhaft vorstellen. Für einige müssen sieben Jahre Warten wirklich eine lange Zeit gewesen sein.

Im Winter kommen die Tibeter gern auf Pilgerschaft in Bodhgaya zusammen. Als ich etwa ein Jahr alt war, brachten mich meine Großeltern zum Mahabhodi Tempel während einer dieser winterlichen Zusammenkünfte. Meine Schwester meint, es sei üblich, dass bhutanische oder tibetische Großeltern den Eltern die Kinder abnehmen, wenn diese über zwei Jahre alt sind.

Ungeduld lag in der Luft. Über drei Jahre hatten alle auf ein Zeichen von Sakya Trizin gewartet und bisher gab es keine Nachricht. Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche war in Bodhgaya und machte seine Praxis. Als er mich am Tempel auf dem Arm meiner Großeltern erblickte, winkte er leise Chökyi Lodrös alten Diener Tashi Namgyal herbei  und sagte: „Schau, schau diesen Jungen an, ich glaube er ist Chökyi Lodrö Rinpoches Wiedergeburt.“ Tashi Namgyal schnauzte Dilgo Khyentse Rinpoche geradezu an. Er war nervös, weil sie sich alle darauf geeinigt hatten, dass nur Sakya Trizin und ausschließlich er eine solche Behauptung äußern sollte. Er hieß Dilgo Khyentse Rinpoche seine Gedanken für sich zu behalten, denn wenn so etwas seine Runde machte, gäbe es Probleme. Besonders weil Ripoche selbst Sakya Trizin zum Entscheidungsträger ernannt hatte. Aus genau diesem Grund gestaltet sich das Geschäft um die Tulkus kompliziert. Dilgo Khyentse Rinpoche entgegnete: „Wenn Sakya Trizin allwissend ist, wird er dasselbe sagen.

1966 hielt sich Khyentse Chökyi Lodrös Wittwe, Khandro Tshering Chödrön, in der Palastkapelle in Gangtok, Sikkim, auf, als sie ein Telegramm von Kyabje Sakya Trizin erreichte, der inzwischen 21 Jahre alt war. Es war ein dünnes Blatt rosa Papier, dreifach gefaltet. Die Nachricht war auf Englisch, gespickt mit dem Wort „stop“ und besagte, dass der Zweitgeborene und älteste Sohn von Thinley Norbu die Wiedergeburt von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö sei. Zu dem Zeitpunkt erhielt ich den offiziellen Namen Jamyang Khyentse Chökyi Gyatso, was „Sanfte Stimme Ozean des Buddhadharma“ bedeutet.

 

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Gepostet am

Mai 15, 2016