Episode 1: Fort von daheim

Mein Leben ist eine Erscheinung, eine Halluzination, eine Projektion, die noch abgeblendet werden muss. Diese Erscheinung hat einen Zeitrahmen, eine Logik, und wie die Sonne, wird sie untergehen. Je nach den Schwingungen meiner Laune kommt mir dieses Leben manchmal lang und manchmal kurz vor. Innerhalb seiner Spanne wurden Pläne umgesetzt und sind Pläne gescheitert. Natürlich ist das nicht nur bei mir so: alle Menschen, die ich kenne – ob ich ihnen nun persönlich begegnet bin oder nicht – haben ihre eigenen Erscheinungen ihrer sogenannten Leben. In der Halluzination meines Lebens weiß ich um John Lennon, dem ich nie begegnete und der einen Einfluss auf mich hatte. Wäre ich ein Schmetterling gewesen, hätte ich niemals von ihm gehört. In der Halluzination meines Lebens weiß ich um Stalin, den ich nie getroffen habe und der keinen Einfluss auf mich hatte. Stalin ist mir völlig egal.

Ein großartiger Schöpfer der Illusion von Worten
Von den Menschen, denen ich tatsächlich begegnet bin, kenne ich einige schon mein ganzes scheinbares Leben lang, andere erst seit kurzem. Manche leben noch, andere sind schon tot. Manche waren vollkommen unbedeutend und manche bedeuten mir sehr viel. Ich habe mit unzähligen Indern im Zug gesessen, mit ihnen Proviant und Gespräche geteilt, deren Namen meinem Gedächtnis entfallen sind. Ich diskutierte in Boston über einer Tasse Tee den Dharma mit einem, von dem ich nicht wusste, dass es Allen Ginsberg war, und so versäumte, mit einem großen Schöpfer der Illusion von Worten über Poesie zu diskutieren. Ich traf die allerschönste Königin der Dominas, Whitney Ward, die mir ihr Verließ zeigte und später an einer Feuer Puja mit mir teilnahm. Und ich bin dem dritten König von Bhutan, Seiner Majestät König Jigme Dorji Wangchuk, begegnet, der mich, als ich ein Kind war, hoch hob und mich auf seinen Schultern umhertrug. Ich kann mich noch an den Zigarettengeruch in seinem Haar erinnern.

Seine Majestät Jigme Dorji Wangchuck, der dritte König von Bhutan
Unter allen diesen Erscheinungen hat es so viele Veränderungen gegeben, so viel Tod, und auch so viele Geburten. Es gab eine Handvoll Heiraten und ziemlich viele Scheidungen. Auch ich muss mich verändert haben in diesem und in allen meinen Leben. Ich muss zuvor in so vielen anderen Formen erschienen sein: als Vogel, als Käfer, als Mensch.
Doch diese jetzige Erscheinung ist vermutlich ein bisschen zusätzlich wertvoll, da sie den Namen von Gautama gehört hat und eine kindliche Bewunderung für das, was er zu sagen hatte, entwickelt hat. Ich bin auch einem der größten Wesen, das jemals in den Suppenkessel der Geschichten gefallen ist, begegnet, ein Wesen, das als Kompass aufstieg, das zum Leuchtturm meines Lebens wurde.
Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, schickte man mich fort in ein Internat. Ich war zum ersten Mal alleine unter Fremden, und lebte in einem Schlafsaal. Das war eine bedeutende Veränderung für mich, da ich in einer großen, streng Buddhistischen Familie in Yongla, Ost-Bhutan, aufgewachsen war, umgeben von Besuchern und Dienern, Yogis mit dreadlocks, für die ein Bob Marley-Fan sterben würde, und hemmungslosen Yoginis, die so selbstsicher waren, dass sie perfekte Präsidentschaftskandidatinnen einer Organisation der Frauenrechtsbewegung abgegeben hätten. Da gab es wunschlose Höhlenbewohner, die nicht begreifen konnten, warum Leute so bedacht darauf waren, die Erde umzugraben, Pfosten zu setzen und Decken zu ziehen. Es gab gleichmütige Mönche, die vermutlich noch nie mehr als 10 Rupien angerührt hatten. Und es gab viele notgeile Gomchen[i], deren Neckereien und Techtelmechtel mit den Damen mich unendlich neugierig machten, und deren Umtriebigkeit meinen Hormonen vermutlich mit auf die Sprünge halfen.
Im Haus meines Großvaters mütterlicherseits gab es in jedem Raum einen Schrein, weshalb man zum Furzen raus gehen musste. Dauernd wurden Pujas abgehalten; morgens wachte ich von dem Geruch von Rauchwerk und den Klängen von Zimbeln, Glocken und Trommeln auf, die sich langsam mit den Liedern der Zikaden, Tauben und Krähen verwoben. Das muss der Grund sein, warum ich die Filme von Ozu so sehr mag, wegen der Art, wie er den Sound einsetzt.

Drubwang Sonam Zangpo
Mein Großvater war ein Renaissance-Mensch: er war nicht nur die perfekte Verkörperung eines Yogis, er konnte wunderbar kochen, Rauchwerk herstellen, war ein Medizinmann, ein Bildhauer und ein Architekt, der immerzu Stupas renovierte oder neu baute. Sobald ich aus der Tür trat, stieß ich auf hämmernde Schmiede, die Ritualgegenstände herstellten und die Luft war schwer von dem Geruch bhutanischer Farbe, die aus Rindsleder hergestellt wurde. Sogar noch heute fühle ich mich immer in meine Kindheit zurückversetzt, wenn ich einen frisch bemalten bhutanischen Tempel betrete. Noch heute wird diese ineffiziente stinkende Farbe verwendet, dank dem diensteifrigen Bhutanischen Nationalinstitut von Zorig Chusum[ii], das in diesen Zeiten, in denen es hochmoderne Farben gibt, darauf besteht, die bhutanische „Tradition“ zu schützen.
Als der Tag meiner Abreise nahte, war das Grummeln meines Großvaters zu hören, der die Erziehung in öffentlichen Schulen für reine Zeitverschwendung hielt. Er mag sogar Recht gehabt haben. Meine Großmutter stimmte in sein Grummeln ein. Sie sorgte sich, dass ich – zumal in einer christlichen Schule – mein Vertrauen in den Buddha und seine Lehren verlieren und anfangen könnte, Tiere als reines Nahrungsmittel zu betrachten. Doch ihr Grummeln war nicht laut. Ihr Grummeln war gedämpft, zurückhaltend und höflich, in höfliche Worte gekleidet, wie man über jemanden grummelte, den man wirklich respektiert.
Es war mein Vater, der den Befehl gegeben hatte, mich in dieses englische Internat zu schicken, und er hatte ihn nicht einmal persönlich mitgeteilt. Er und meine Mutter lebten in Kurseong, einer Bergstation in Darjeeling, Indien. Meine beiden Eltern waren zu beschäftigt, um sich persönlich um mich zu kümmern. Sie arbeiteten für All India Radio. Ich stand meinen Großeltern viel näher, doch kleine Kinder denken automatisch, dass ihre Eltern diejenigen sind, die sie am meisten lieben und für sie sorgen. Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war, wenn Besucher aus Kurseong kamen, wie begierig ich auf irgendeine Nachricht oder ein Zeichen von meinen Eltern war. Doch die Nachrichten waren nie für mich, immer für meine Großeltern.
So kam eines Tages ein Laufbote aus Kurseong mit der Anweisung mich in eine englisch-sprachige Schule zu schicken. Es muss schwer für meine Großeltern gewesen sein, denn es gab keine Möglichkeit die Angelegenheit zu diskutieren, sogar wenn sie es gewagt hätten. Eine Nachricht zurück nach Kurseong zu schicken, hätte Wochen gebraucht, und mein Vater hätte sich ihre Einwände sowieso nicht angehört. Als mein Vater hatte er die Autorität mit mir zu tun, was er wollte, und außerdem war er noch der Sohn von Dudjom Rinpoche, ihres spirituellen Meisters, weshalb sie es nicht wagten, sich bei ihm zu beschweren.

Pater William Mackey
Ich wurde für kurze Zeit auf eine Schule in der Nähe von Yongla geschickt, nach Khidung (was sowohl „Scheiß-Dorf“ als auch Muschelspirale bedeuten kann), doch dann viel weiter weg in eine Schule in Tashigang gebracht, um schließlich in der neugebauten Kanglung-School unter der Leitung des kanadischen Jesuiten-Paters William Joseph Mackey zu landen.
Kanglung School wurde schließlich in Sherubtse College umbenannt, das erste College in Bhutan, doch damals war es nur ein kleines Internat. Ich erinnere mich, dass ich sehr in Sorge war, weil der Schlafsaal-Leiter so streng war und täglich unsere Laken überprüfte, um zu sehen, ob irgendjemand ins Bett machte. Mein Nachbar-Junge nässte regelmäßig ein. Nachts lag ich wach da, schlaflos aus Angst vor der Blamage, wenn ich am Ende auch ins Bett machte. Ich weiß nicht, was aus vielen dieser Klassenkameraden wurde, aber einige wenige unter ihnen haben es zu etwas gebracht, wie den Vereinten Nationen zu dienen oder Polizeichef zu werden.
Wie auch immer, nach wenigen Monaten bei Pater Mackey tauchte eines kalten, regnerischen morgens ein Lastwagen mit einer Ladefläche aus Holzplanken auf der Straße oberhalb der Schule auf. Autos waren damals selten in Bhutan, weshalb alle Schüler den Hügel hinaufliefen und im Regen zusammenstanden um zu schauen. Sie hofften auf Nachrichten von daheim. Es ist sogar heute noch Brauch unter den Familien in Bhutan, Päckchen mit getrocknetem Käse, bhutanischen Corn Flakes oder getrockneten Chilis zu schicken, was normalerweise die Ankunft des Lastwagens bedeutete.
Doch heute war es nicht die übliche Lieferung. Von einer grünen Plane, die die Ladefläche bedeckte, stieg einer der Diener meines Großvaters herab, Sonam Chopel, mit seinem markanten Bart und roten Gesicht (das ist nicht der Witzbold Sonam Chopel, den einige von euch kennen). Sogar Jahre später, als der Bart dieses Mannes weiß geworden war, alterte seine Haut nicht und sein Teint blieb straff und rosig. Mir war sofort klar, dass er etwas für mich auf Lager hatte. Vielleicht ein Paket. Er zeigte in Richtung Plane und eine andere Gestalt kam hervor, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte, ein merkwürdig aussehender Mann in Hosen, nicht im traditionellen bhutanischen Gewand. Anstatt mich zu begrüßen, begaben sich Sonam Chopel und der Fremde direkt zum Büro des Direktors. Eine Horde von uns Kindern kletterte hinauf zum Fenster, um zu beobachten, wie sie mit Pater Mackey sprachen.
Nachdem sie lange miteinander gesprochen hatten, kam Pater Mackey und rief mich zu sich. Er sagte, ich sei nun nicht mehr Schüler an seiner Schule: „Du musst jetzt gehen.“ Ich glaube Pater Mackey hat diesen Tag sogar in seiner Biografie erwähnt.
Ich weiß nicht mehr, ob ich froh war nach Hause zu gehen oder traurig, weil ich meinen Freunden, die ich in so kurzer Zeit gefunden hatte, auf Wiedersehen sagen musste. Gerüchte verbreiteten sich umgehend und einige meiner Schulkameraden begannen Witze zu reißen und mich zu necken. Einigen war es auf einmal peinlich mit mir zu sprechen, warfen sich nieder und baten um meinen Segen. Ich begriff nicht, was vor sich ging. Aber mir blieb nicht viel Zeit darüber nachzudenken.

Amcho in Sikkim, 2009
Noch an demselben kalten und regnerischen Tag verließen wir in demselben Lastwagen Kanglung. Meine Schulkameraden liefen uns nach, bis wir im Nebel verschwanden. Und damit endete meine weltliche Erziehung. Wir fuhren südwärts Richtung Yongla – dieser riesige Mann, der eindeutig kein Bhutaner war und Sonam Chopel, der in seinem verwaschenen Sethra[iii] Gho vor sich hin schnarchte. Später erfuhr ich, dass der bärenstarke Khampa Amcho hieß. Er war im osttibetischen Dzongsar, in Sichuan, Mönch gewesen, hatte aber seine Robe abgelegt, als er Tibet verließ, und war ein großer Hotelier in Gangtok in Sikkim geworden.
Ich frage mich oft, was aus mir geworden wäre, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte, wenn ich nicht erkannt und in das Phänomen eines widergeborenen Tulku hineingezogen worden wäre. Vielleicht wäre ich Computerprogrammierer in New Jersey geworden, wie mein jüngster Bruder, oder hätte ein jüdisches Mädchen geheiratet, oder ich würde mich als Dharma-Praktizierender irgendwo im Hinterland von New York abmühen, wo mein Vater den letzten Teil seines Lebens verbrachte. Ich wäre vielleicht in North Point in Darjeeling zur Schule gegangen und ins College in Indien, wäre nach Bhutan zurückgekehrt, und wäre, gutes indisches Englisch sprechend, zum beigeordneten Sekretär irgendeines Regierungsministeriums ernannt worden, der Projekte leitet, die von Indien finanziert werden. Aber in Anbetracht meiner Anhänglichkeit an meine Großeltern, wäre ich wohl am ehesten ein Gomchen geworden, der keine Unterwäsche trägt und die meiste Zeit halb betrunken umherläuft, ein nächtlicher Jäger, der links und rechts Bastarde zeugt, so dass heutzutage einige Menschen in Ostbhutan umherliefen, die mir ziemlich ähnlich sähen.
[i] Laienpraktizierende
[ii] Bhutanische Kunst
[iii] Ein traditioneller bhutanischer Stoff, mit verschiedenen groben Karos.
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