Episode 19: Rupa – Form und darüber hinaus

 Im Gegensatz zu den meisten Berufstätigen gibt es für Tulkus keine Stellenbeschreibungen. Alles, was sie haben, sind jahrhundertelang im Verborgenen angesammelte Erwartungen und Berge unfairer Unterstellungen. Sobald ein Kind als „Tulku” (die anerkannte Reinkarnation eines tibetisch-buddhistischen Meisters) ausgemacht ist, wird automatisch davon ausgegangen, dass es die Linie, ihre Traditionen und sein spirituelles Erbe aufrechterhält, wozu es seine gesamte Zeit und Energie in persönliches Studium und Praxis investiert. Wenn Tulkus nicht studieren oder praktizieren, wird von ihnen erwartet, dass sie neue Tempel bauen, Bücher drucken und Unmengen von Statuen und Thangkas in Auftrag geben. In meinem Fall war es ausgemacht, dass ich, nachdem ich den Titel des Dzongsar Khyentse Tulku bekommen hatte, die Dzongsar Khamje Shedra wieder aufbauen würde, die bis zu ihrer Zerstörung während der chinesischen Kulturrevolution eines der berühmtesten Zentren buddhistischer Lehre in Osttibet gewesen war. Da jedoch die instabile Lage in Sichuan zu dieser Zeit den Wiederaufbau der alten Shedra praktisch unmöglich machte, wurde eine neue Shedra in einem Ort namens Bir im Norden Indiens gegründet, wo eine Handvoll tibetischer Lamas und ihr Gefolge eine tibetische Flüchtlingssiedlung errichtet hatten.

Bir war ein kleines, verschlafenes Dorf, umgeben von Teegärten und Reisfeldern. Da die Läden dort nur Lebensmittel verkauften, mussten die Lamas nach Delhi reisen, um viele der Materialien zu besorgen, die sie für den Bau ihrer Tempel benötigten – Nägel, Schrauben, Schleifpapier, Farbe, Pinsel, Kleber und so weiter. Als wir Anfang der 1980er Jahre mit dem Bau der Shedra – dem Dzongsar-Institut – begannen, war das Geld so knapp, dass wir mit dem Nachtbus der DTC (Delhi Transport Corporation) nach Delhi fuhren, tagsüber unsere Besorgungen erledigten und dann mit demselben Bus in der Nacht zurück nach Bir fuhren, um keine Hotelzimmer bezahlen zu müssen. Nach zwölf langen Stunden im Bus, der mit unfassbarer Geschwindigkeit über kaum als Straßen erkennbare Pisten holperte, wurden wir früh morgens in Majnu-ka-tilla (MT[1]) abgesetzt, wo wir eine Tonga (ein Pferdewagen) mieteten, um zu Orten wie Chandni Chowk in Alt Delhi zu fahren.

 

 

 

Foto: Shariful iea

Während einer dieser Einkaufstouren stieß ich auf eine atemberaubend schöne, lebensgroße Statue von Saraswati, die im Schaufenster des Statuenladens im Tamil Nadu House stand. Gegossen aus der traditionellen Legierung aus „fünf Metallen“[2] (Bronze) im Chola-Stil, mögen ihre riesigen Augen, ihre „Taille, schmal wie ein Blitz“[3] und ihre üppigen Brüste, „frisch wie neu geborene Lotusknospen“[4], je nach Betrachter etwas übertrieben wirken – eher wie eine Comicfigur als ein realer Mensch.

Als ich die Statue zum ersten Mal sah, kam mir nicht einmal in den Sinn, über den Preis zu verhandeln, da wir jede Rupie für Nägel, Farbe und Pinsel brauchten. Stattdessen machte ich jedes Mal, wenn ich nach Delhi fuhr, einen Abstecher zum Tamil Nadu House, nur um sie durch das Schaufenster anzuschauen. Zu meinem Glück zeigte mehr als ein Jahrzehnt lang niemand das geringste Interesse daran, sie zu kaufen, und bis dahin hatte sich meine finanzielle Situation so weit verbessert, dass ich erwägen konnte, Verhandlungen aufzunehmen. Aber wie es das Schicksal so wollte, an dem Tag, als ich endlich den Laden betrat, entschlossen einen guten Deal zu machen, war meine Saraswati-Statue nicht mehr da. Und obwohl ich kein einziges Detail ihres Gesichts oder ihrer Gestalt vergessen habe, begleitete mich das Gefühl des Verlustes, das ich an diesem Tag empfand, lange Zeit.

Die Chola-Dynastie herrschte fast viereinhalb Jahrhunderte (855–1280) von der Stadt Thanjavur in Tamil Nadu aus über Südindien. Die Kunsthistorikerin Vidya Dehejia schreibt in ihrem Buch The Thief Who Stole My Heart:

Die Chola-Königsfamilie erwies sich als politisch klug und ehrgeizig; ihre Könige und Königinnen waren kultiviert und gebildet und engagierten sich zutiefst in der religiösen Ethik des Hinduismus, insbesondere der frommen Verehrung des Gottes Shiva. Sie förderten den Bau von Tempeln und finanzierten einige der inspirierendsten Darstellungen ihrer Gottheiten in Bronze. Es gibt nirgendwo sonst in Indien diese Art von heiligen Bronzeskulpturen; weder im Norden, noch im Westen, noch im Osten Indiens gibt eine vergleichbare Tradition von Prozessionsfiguren aus Bronze.

Anhänger monotheistischer Religionen und Kommunisten haben Indiens Beziehung zu seinen Gottheiten nie verstanden. Sogar die Sprache, die sie zur Beschreibung der heiligen Statuen Indiens verwenden, ist herabwürdigend; Statuen sind „Götzenbilder” und Verehrung wird zu „Götzendienst” reduziert. Die Beseitigung solcher Götzenbilder war ihre Rechtfertigung für die Plünderung und Zerstörung sehr vieler Tempel in Asien – als ob ihre Kreuze, Halbmonde und Sterne, Hämmer und Sicheln etwas anderes wären als Objekte ihrer eigenen Form von Götzendienst.

Wenn sie nur verstehen könnten, dass unser Weg ein paradoxer ist. Wie der Mann, der für diesen Weg verantwortlich ist, der Mann, den wir als Buddha kennen, sagte:

Diejenigen, die mich als Form sehen,
diejenigen, die mich als Klang hören,
haben sich auf einen falschen Weg begeben.
Solche Menschen sehen mich nicht wirklich.[5]

Die heiligen Bilder des Buddhismus, insbesondere die tantrischen buddhistischen Darstellungen, sind nicht nur Symbole, die das Göttliche repräsentieren. Ganz gleich, wie unermesslich klein oder unermesslich groß etwas auch sein mag, alles, was wir sehen, berühren, riechen und hören können, liegt in der Sphäre der Gottheit, die manchmal auch als ‚Rupakaya‘ bezeichnet wird. Daher ist es das Ziel des angehenden Tantrikers, mit dem Rupakaya (der Sphäre der Form) in Verbindung zu treten, denn dies befreit ihn von seiner Fixierung auf Größe, Farbe, Form und so weiter. Dieses Ziel kann man jedoch nur schrittweise erreichen. So wie man behaupten kann, vom Ozean getrunken zu haben, wenn man einen Tropfen Meerwasser gekostet hat, kann ein angehender Tantriker behaupten, der nichts weiter als eine winzige Statue oder ein Gemälde verwendet, eine direkte Erfahrung mit der Sphäre der Gottheit gemacht zu haben.

Obwohl ich hoch in den Bergen des Himalaya in Bhutan zur Welt kam, wurde ich schon früh entwurzelt und verbrachte einen Großteil meiner Kindheit in Nordindien. Daher gelang es mir erst mit Ende 30, den Süden zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich bereits kahl, war mittleren Alters und mit allen Wassern gewaschen. Ich hatte genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass ich mich mit einem zweitklassigen Produkt zufriedengeben müsste, würde ich eine Saraswati-Statue in einem Geschäft kaufen, selbst im teuersten Geschäft Indiens. Stattdessen entschied ich mich dafür, die Dinge richtig anzugehen, was in diesem Fall bedeutete, meine Statue in einer renommierten südindischen Gießerei in Auftrag zu geben. Einige Wochen, nachdem ich meine Bestellung für eine lebensgroße Saraswati-Statue an den Meisterbildhauer geschickt hatte, wurde ich eingeladen, seine Gießerei in den dichten Kokospalmenwäldern in der Nähe von Tanjore in Tamil Nadu zu besuchen, und zwar an einem von seinen Astrologen bestimmten glückverheißenden Tag.

Da ich im Norden Indiens aufgewachsen bin, wo die Mogul-Invasoren und britischen Kolonisatoren der Kultur ihre eigenen Besonderheiten eingeimpft hatten, war ich neugierig auf den Süden und wollte unbedingt das Indien der Veden erleben. Deshalb beschloss ich, auf meinem Weg zur Gießerei die Gelegenheit zu nutzen, und mir einige der großen Städte Südindiens wie Chennai, Tirupati und Pondicherry anzusehen.

Bis dahin hatte ich mich voll und ganz auf das Studium der tibetisch-buddhistischen Philosophie und Praxis konzentriert und bisher nur an der Oberfläche der reichen Kultur Indiens gekratzt. Wie die meisten Tibeter waren Bollywood-Filme und Tandoori-Küche die einzigen Aspekte der indischen Kultur, mit denen ich in Berührung gekommen war. Wohin das Auge reichte, hingen Wälder von handgemalten Filmplakaten, einige sechs Stockwerke hoch, die für beliebte Filme wie Sholay (1975), Bobby (1973) und Guddi (1971) warben. Zu Diwali, bei indischen Hochzeiten, in Teestuben und überall, wo man sich auf „indischem Boden“ befand, dröhnten Bollywood-Songs aus Radios, Hi-Fi-Anlagen und Fernsehern – und wir liebten sie! Aber wir hatten auch keine andere Wahl!

Meine Zeitgenossen haben meine Faszination für die alte indische Kultur und Tradition nie verstanden, ebenso wenig wie meine Bewunderung für Menschen wie Mallikarjun Mansur und Bhimsen Joshi. Ich führe mein Interesse auf eine karmische Verbindung zurück. Karma spielt immer eine große Rolle bei allem, was wir mögen und was nicht. Warum sonst hätte ich stundenlang in der sengenden Hitze gewartet, um Giganten wie Mallikarjun Mansur und den großen pakistanischen Sänger Nusrat Fateh Ali Khan bei ihrem Auftritt am Humayun-Mausoleum in Delhi zu hören? Es war sicher nicht der Einfluss der Menschen, die mir damals nahestanden, denn die hatten überhaupt keine Ahnung von indischer Kultur und Philosophie. Und ich bin auch nicht in einer Kunstgalerie aufgewachsen. Mein Interesse muss also durch eine karmische Verbindung geweckt worden sein.

Der große Sakya-Meister und einer der Säulen der Lamdre-Lehren, Khyentse Wangchuk (1524-1568), schrieb, dass seine Stimmung immer stieg, wenn er etwas sah, das auch nur im Entferntesten wie Dhal oder Chapati aussieht, und dass schon der flüchtige Anblick eines indischen Yogi, eines Dzoki, ihm den Tag versüßte. Vielleicht, so spekulierte er, war er in einem seiner früheren Leben ein Inder gewesen? Das lässt mich fragen, ob meine fast irrationale Liebe zu fast allem Indischen und meine Überzeugung, dass das, was die Briten Indien angetan haben, einfach nicht richtig war, das karmische Ergebnis davon ist, dass ich unter der britischen Kolonialherrschaft als Punkhawallah[6] der indischen Oberschicht diente?

Es dauerte nicht lange, bis aufmerksame Freunde bemerkten, wie sehr ich den klassischen indischen Tanz und die klassische indische Musik bewunderte. Wie es der Zufall so wollte, kannte einer von ihnen eine berühmte Bollywood-Schauspielerin und Tänzerin, die in Chennai lebte, die großartige Vyjayanthimala. Ich weiß nicht genau, wie das zustande kam, aber irgendwie gelang es meinem lieben Freund, Vyjayanthimala zu überreden, mir eine Audienz zu gewähren, und so unternahm ich schließlich meine erste Reise nach Chennai.

 

 

 

Vyjayanthimala

Chennai ist die Heimat einer der ältesten Tanztraditionen Indiens, des Bharatanatyam. Als wir ankamen, wimmelten die Straßen von jungen Mädchen in traditionellen Tanzkostümen, die auf dem Weg zu ihrem Unterricht waren. Es war ein bezaubernder Anblick, und ich beschloss umso mehr, während unseres Aufenthalts so viele Tanzaufführungen, Vorträge, klassische Musikkonzerte, Shows und Workshops wie möglich zu besuchen. Es war eine magische Zeit.

An dem Tag, an dem Vyjayanthimala bereit war, mich zu empfangen, machte ich mich auf den Weg zu ihrem Haus im Zentrum von Chennai und klopfte an die Tür. Ein älterer Herr, wohl ihr Ehemann, führte mich ins Wohnzimmer. Vyjayanthimala begrüßte mich mit einem strahlenden, herzlichen Lächeln. Sie war eine sehr sympathische Frau, aber auch neugierig, warum dieser seltsame Mann aus Bhutan und Tibet sie unbedingt treffen wollte. Ich konnte fast hören, wie sie dachte: „Was will der wohl von mir?“

Zunächst hatte ich nur Augen für die südindische Künstlerin – sie leuchtete förmlich. Als ich dann allmählich meine Umgebung wahrnahm, dämmerte mir, dass in diesem Haus seit seiner Errichtung nichts verändert oder umgebaut worden war. Es war, als würde man in eine Zeit zurückversetzt, in der IKEA oder Fendi Casa nicht einmal als Idee ihrer Gründer existierten. Die Möbel waren alt und schwer, aber liebevoll gepflegt, und die Hartholzvertäfelung glänzte unter einer warmen Patina aus Bienenwachs.

Vyjayanthimala bot mir das übliche Glas Wasser und indischen Tee an, während wir uns zum Gespräch niederließen. Nach ein paar Minuten wurden wir durch das Muhen einer Kuh unterbrochen – das letzte Geräusch, das ich in einer so bebauten, wohlhabenden Nachbarschaft erwartet hätte. Ich habe oft Kühe gesehen, die friedlich in klimatisierten Seiden- und Teppichgeschäften in verschiedenen Teilen Indiens schliefen, aber eine Kuh in ihrem Haus war undenkbar.

Als Vyjayanthimala mein Aufhorchen bemerkte, öffnete sie ein Fenster. Und dort, in ihrem Garten, standen vier oder fünf Kühe und kauten friedlich Heu. „Das sind meine Kühe“, sagte sie in einem sachlichen Tonfall. „Wir halten sie hauptsächlich wegen der Milch, die wir während der Pujas verwenden, aber wir stellen auch unsere eigene Butter, Buttermilch und Paneer her.“ Während sie sprach, drang der unverkennbare Geruch von Kuhdung durch das offene Fenster in den Raum, aber sie schien ihn kaum zu beachteten. Wenn ich an jene Jahre zurückdenke, erfüllt mich die Erinnerung an diesen vornehmen, behaglichen und bodenständigen Lebensstil mit Sehnsucht.

Von Chennai aus fuhren wir acht Stunden lang durch Kokospalmenwälder und Bananenplantagen. Kurz vor Mittag kamen wir in einem Dorf in der Nähe der Gießerei an. Wie an so vielen Orten in Indien schien die Zeit hier still zu stehen. Überall liefen Kühe herum, viel mehr als wir es aus dem Norden kannten. Mitten im Dorf befand sich ein wunderschöner, tiefer Teich, in dem die Dorfbewohner badeten. Auf fast allen Türschwellen der Häuser waren komplizierte Rangoli[7] -Muster gezeichnet – das Muster wurde nie abgewaschen, sondern einfach jeden Morgen erneuert.

 

 

 

Ein Rangioli aus Tamil Nadu, das auf Tamilisch „Kolam“ heißt.

Nachdem wir uns unserem Gastgeber vorgestellt und mit der Familie zu Mittag gegessen hatten, beschloss ich, das Dorf zu erkunden. Als ich an den offenen Türen eines nahe gelegenen eingeschossigen Hauses vorbeiging, erkannte ich eines der Kinder unseres Gastgebers, das offenbar etwas auf den Boden malte. Ich näherte mich und erblickte ein überlebensgroßes Gemälde von Kali Devi. Das Bild war hervorragend gemalt und die Farben umwerfend – es musste Stunden gedauert haben. Ich schaute einige Minuten zu und setzte dann meinen Weg durch das Dorf im Schatten der Kokospalmen fort.

Etwa eine halbe Stunde später, als ich zu unserer Gastfamilie zurückkehrte, hörte ich Sanskrit-Gesänge und das Läuten von Pujaglocken. Ich liebe es, Sanskrit-Shlokas und die Klänge indischer Pujas zu hören, folgte also meinen Ohren zu dem Gebäude, an dem ich zuvor vorbeigegangen war. Das Gemälde von Kali Devi war fertiggestellt worden, und ein Priester hielt nun eine Lampe und etwas Rauchwerk in den Händen, und führte eine Opfer-Puja durch. Ich setzte mich still hin und schaute zu, bis die Puja zu Ende war und das Gemälde verwischt wurde. Später erfuhr ich, dass die Familie unseres Gastgebers dieses Ritual seit mehreren Generationen täglich zelebrierte und nicht einen einzigen Tag ausgelassen hatte.

In dieser Nacht, als ich auf einem harten Palmholzbett lag, hörte ich das Prasseln großer Regentropfen, die auf die Bananenstauden und Kokospalmen fielen. Während ich lauschte, atmete ich den Duft der feuchten Erde ein, die vom Regen durchtränkt war, und dachte mir: „Die Welt sollte Indien dafür bezahlen, dass es so bleibt, wie es ist, um zukünftigen Generationen zu beweisen, dass es auch eine andere Art zu leben gibt.“

Am nächsten Morgen standen wir lange vor Sonnenaufgang auf, um unseren Termin in der Gießerei wahrzunehmen. Als wir ankamen, war das Team von Handwerkern bereits bei der Arbeit, die meisten von ihnen fast nackt, ihre Mundus[8] um die Hüften gebunden. Unter einem offenen, von Säulen getragenen Dach, das von einer Kombination aus grellen Neonröhren und alten Hängelampen (die ich sofort haben wollte) beleuchtet wurde, gruppierten sich Gussformen und Statuen in verschiedenen Fertigungsstadien. Einige der Figuren kamen frisch aus den Formen, andere waren halb fertig, und einige mussten nur noch poliert werden. Ein charismatischer alter Mann in den Siebzigern, der eine beeindruckende Autorität ausstrahlte, war ganz offensichtlich für den Betrieb verantwortlich – das gesamte Team hatte Angst vor ihm. Das war der Meisterbildhauer. Da er weder Hindi noch Englisch sprach, fanden wir einen Mittelsmann, der beide Sprachen verstand und alles, was wir sagten, ins Tamilische übersetzen konnte.

Obwohl ich zunächst nicht begriff, worum es eigentlich ging[9], erfuhr ich später, dass der Bildhauermeister eine Statue von Saraswati in Wachs geschnitzt hatte, von der eine Gussform gemacht worden war. An diesem Morgen war die Gussform in der Erde vergraben worden, wobei man ein Loch gelassen hatte, durch das das flüssige Metall gegossen würde, und um das Loch herum waren Blumengirlanden drapiert.

Der Meisterbildhauer wies mich an, mich neben das Loch zu setzen, während er begann, Sanskrit-Shlokas zu singen, wobei er nur innehielt, um seine jungen, in Mundis gekleideten Assistenten anzubellen. Von Zeit zu Zeit schloss er die Augen und betete, was mir wie eine Ewigkeit vorkam. Erst jetzt wurde mir klar, dass dieser Mann nicht nur ein Geschäft betrieb. Für ihn war das Herstellen von Götterstatuen mehr als nur sein Lebensunterhalt und weitaus wichtiger als nur die Bewahrung der Wachsausschmelzmethode zur Herstellung von Bronzestatuen. Für ihn war seine Kunst sein spiritueller Weg, seine spirituelle Praxis.

Als das Ritual vorbei war, stand die Sonne bereits am Himmel, ihre Strahlen drangen durch die Kokospalmen und Bananenblätter und tauchten unsere Umgebung in leuchtende Grün- und Orangetöne. Das Nachspiel des Rituals war chaotisch und zugleich wunderschön.

Ich hatte den Eindruck, dass die Statuen im Chola-Stil seit Jahrhunderten immer auf die gleiche Weise hergestellt wurden. Die Figuren, die in dieser südindischen Gießerei des 21. Jahrhunderts entstanden, wurden mit genau denselben Techniken gefertigt, die vor tausend Jahren zur Herstellung der berühmten Chola-Bronzen verwendet wurden, die heute die Museen der Welt füllen. Für einen Moment war es, als wären alle alten Schöpfer der Bronzestatuen und Handwerker Südindiens um uns versammelt.

Und das war’s dann auch schon.

Der Bildhauermeister erklärte mir, dass es einige Monate dauern würde, bis die Statue fertig sei, und dass ich mich noch etwas gedulden müsse. Ich bedankte mich bei ihm und fragte, ob ich mich in der Werkstatt nach einigen kleineren Statuen als Geschenke für Freunde umsehen dürfte. Vielleicht eine kleine Ganesh-Figur? Und, fügte ich hinzu, während mein Blick auf die prächtigen hängenden Öllampen fiel, würde mir der Bildhauermeister vielleicht einige seiner Lampen verkaufen?

Nachdem ich einen Kaufpreis für zwei Öllampen verhandelt hatte, schlenderte ich durch die Werkstatt. Inmitten all des Staubs und Chaos fiel mein Blick auf die Darstellung von Nataraja, dem tanzenden Shiva, dem Herrn des Tanzes, und ich wusste sofort, dass es etwas Besonderes war – Buddhisten würden dieses Gefühl als Ausdruck meiner Verbindung zu dieser Gottheit bezeichnen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen.

Er trägt einen Frauenohrring an einem Ohr,
reitet auf seinem Stier,
gekrönt von einem reinweißen Halbmond
sein Körper mit Asche vom Verbrennungsplatz beschmiert.
Er ist der Dieb, der mein Herz stahl.[10]

Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, einen Preis für diese prächtige Gottheit zu verhandeln. Aber als sie sahen, dass ich an der Figur interessiert war, begannen meine Freunde und Assistenten mit dem Bildhauermeister zu feilschen. Zu aller Überraschung erklärte er leise, dass die Statue nicht zum Verkauf stehe. „Ich habe diesen Nataraja für mich selbst gemacht“, sagte er. Also änderten meine Freunde ihre Taktik und bettelten ihn an, uns die Statue um jeden Preis zu verkaufen. Währenddessen betrachtete ich Nataraja.

Als ich meinen Blick endlich von der Darstellung lösen konnte, wandte ich mich dem Meisterbildhauer zu. Vielleicht weckte meine Begeisterung für Nataraja sein Mitgefühl, denn zum ersten Mal seit unserer Ankunft lächelte er mich an. Einen Moment später willigte er ein, mir die Statue zu verkaufen. Er hätte meine Begeisterung ausnutzen und einen überhöhten Preis verlangen können, aber das tat er nicht. Er nannte mir einfach seinen üblichen Preis. Das ist die Würde und Integrität eines wahren Künstlers und Verehrers der Gottheit.

Shiva ist auch als Mahadeva bekannt, und in der tibetischen Tradition ist Mahadeva ein Beschützer des Buddhadharma. In vielen Sutras wird Shiva unter denen aufgeführt, die vor 2.500 Jahren den Lehren des Buddha lauschten, weshalb wir ihn als unseren Dharma-Bruder betrachten können.

Einige aus meiner Familie schätzen Mahadeva sehr und geben alles, um ihn besser kennenzulernen. Wie immer in der faszinierenden Welt des Tantra ist einer alles und alles ist einer, schlecht ist gut und gut ist schlecht, der Meister ist der Sklave und der Sklave ist der Meister. So wie Mahadeva zu den Füßen des mächtigen Vajrakumara zu finden ist , kann er auch als Avalokiteshvara in Erscheinung treten. Im Chime Phagme Nyingtik, einem der berühmtesten Schatztexte von Jamyang Khyentse Wangpo, ist die Hauptgottheit Arya Tara und ihr Gefährte ist kein anderer als Nataraja.

Es gibt viele faszinierende Geschichten über Shivas Streiche, seine große Macht und sein Mitgefühl. Besonders spannend sind die Geschichten darüber, warum, wie und wann er als Nataraja (frei übersetzt: Herr des Tanzes) seinen nie endenden Tanz tanzte. Hier ist eine:

Heute, Herr, erfülle mir meinen Wunsch,
nimm die Gestalt eines Tänzers an und zeige mir deinen Tanz.

Du weißt nicht, worum du mich bittest!
Es wird Scherereien geben. Bitte mich nicht zu tanzen.

Wenn ich tanze, werden Tropfen von Nektar vom Mond auf meiner Stirn fallen
und das Tigerfell, das ich trage, wird lebendig werden.
Dieser Tiger wird dich erschrecken.

Wenn ich tanze,
werden sich die Schlangen, die mich schmücken,
von ihren Plätzen lösen und auf dem Boden schlängeln.
Dann werden sie den Pfau deines Sohnes angreifen.

Wenn ich tanze,
wird sich der Ganges in meinem Haar auf den Boden ergießen und zu einem tausendköpfigen Strom werden.
Wer vermag ihn wieder zusammenführen?

Wenn ich tanze,
werden alle Bestattungsgründe zum Leben erwachen und die Skelette werden zu tanzen beginnen.
Und das wird dich erschrecken, Gauri.

Dennoch, aus Liebe zu allen Wesen
und um deinen Wunsch zu erfüllen,
werde ich tanzen.

Heute steht Saraswati in meinem Garten, umgeben von Blumen, Insekten und einer unendlichen Anzahl bekannter und namenloser subtropischer Himalaya-Vögel, und Nataraja steht im Innenhof meines Hauses. In bestimmten alten indischen Tempeln werden für solche Statuen aufwendige Rituale durchgeführt. Sie dienen dazu, die Gottheit zu wecken, ihr die Morgenwaschung anzugedeihen, jede Mahlzeit des Tages darzubringen und ihr abends Tanz und Musik zu bescheren. Obwohl ich nur beten und wünschen kann, dass ich in unzähligen Leben dem Beispiel dieser Tempel zu folgen vermag, versuche ich sicherzustellen, dass beiden Statuen jeden Tag mindestens ein oder zwei rituelle Opfergaben dargebracht werden.


 

 

 

Saraswasti im Garten von Khyentse Rinpoche. Foto: Tejal Shah

Bir ist während der Monsunzeit besonders feucht, und vor einigen Jahren waren meine Begleiter äußerst alarmiert, als sie feststellten, dass zwei sehr große, sehr giftige Schlangen in und um mein Haus herum lebten. Eine Armee von bhutanischen und tibetischen Mönchen und Begleitern kam mit Stöcken bewaffnet auf mein Anwesen, um die Schlangen in die Enge zu treiben, sie in einen Sack zu stecken und dann in weiter Ferne zur Labrang freizulassen. Sie fanden, dass giftige Schlangen gefährlich sind und dass sie nicht nur an meine Sicherheit denken mussten, sondern auch an die aller, die in der Nähe lebten und arbeiteten.

Die vier einheimischen indischen Frauen, die meinen Schrein pflegen, meine Zimmer reinigen und meinen Garten aufräumen, waren von all dem Aufruhr völlig verwirrt. „Aber es wird immer Schlangen in Guru-jis Haus geben! Natürlich! Wo sonst sollten sie leben? Es ist der perfekte Ort für Schlangen, schon allein deshalb, weil Nataraja, der Herr des Tanzes, genau dort im Innenhof steht.“ Für sie war es selbstverständlich, dass die Schlangen – die genauso gut als Gottheiten oder als Schmuckstücke der Gottheiten angesehen werden konnten – genau wussten, wo sie leben sollten. So wie die Ohrringe einer Frau an ihre Ohrläppchen gehören, gehört eine Schlange zum Herrn des Tanzes. Für sie symbolisiert die Statue von Nataraja nicht nur den Gott Shiva, sie ist Shiva selbst und sollte so behandelt werden, wie man Shiva selbst behandeln würde. Ihm sollte das Essen serviert werden, das er mag, er sollte die Musik und den Tanz genießen dürfen, die er mag, und er sollte in einem sauberen Haus leben und gut versorgt werden.

Ich schämte mich. Diese Frauen hatten instinktiv genau die Beziehung zu meinen Statuen, wie sie tantrische Praktizierende zu tantrischen Darstellungen haben sollten. Heilige Statuen sind weder bloße Kunstwerke noch sind sie lediglich Symbole oder Erinnerungen an das Göttliche. Die Statue selbst, das Metall oder der Stein, aus dem sie gefertigt ist, ihre Höhe und ihr Gewicht, ihr Glanz, sogar der Raum, den sie einnimmt – also das ganze Haus und darüber hinaus – sind die Gottheit.

Zutiefst beschämt bat ich die Mönche leise, zu gehen. Und damit hatte sich auch das erledigt.

 

Nataraja im Innenhof des Hauses von Khyentse Rinpoche.
Fotos: Tejal Shah


[1] Die tibetische Kolonie, die 5 oder 6 Kilometer nördlich des Roten Forts liegt.

[2] Pañcadhātu (Skt.), die in den Shilpa Shastras für die Herstellung heiliger Bilder vorgeschriebene Legierung, die zu etwa 90 % aus Kupfer, 10 % aus Zinn sowie Gold, Silber und Zink besteht.

[3] Mein Meister, der über Accirupakkam herrscht, zeigt zwei Gestalten, da er die zarte Frau mit der schmalen Taille wie ein Blitz als seine Hälfte angenommen hat. Er hat wallendes, verfilztes Haar wie eine Masse aus Gold, in seinem Körper vermischt sich die Farbe von Meereskorallen mit dem Farbton des Feuers, und auf der Weite, die von zwei Schulterhügeln eingerahmt wird, trägt er den weißen heiligen Faden und die reichhaltige Asche. 8. Appar IV.8.10

[4] Diese Beschreibungen wurden ursprünglich von Dichtern verwendet, um Shivas Gemahlin Uma zu beschreiben, könnten aber genauso gut auf eine Chola-Saraswati-Statue angewendet werden.

[5] aus dem Vajracchedikā, dem Diamond Cutter Sutra

[6] In Indien war Punkahwallah ein Diener, der einen großen Fächer per Seilzug manuell in Schwingungen versetzte. (Wikipedia)

[7] „Rangoli” ist eine indische Kunstform. Dabei werden Muster auf dem Boden oder einem Tisch etwa mit Kalksteinpulver, rotem Ocker, trockenem Reismehl, farbigem Sand, Quarzpulver, Blütenblättern und farbigen Steinen gestaltet. Rangoli wird verwendet, um Hindu-Götter zu „erleuchten” oder in den Haushalt willkommen zu heißen.

[8] Ein ein langes Tuch, das Männer in Tamil Nadu um die Hüfte gebunden tragen.

[9] Wer sich für das Wachsausschmelzverfahren interessiert, bekommt im folgenden Video einen Überblick über die einzelnen Schritte. https://www.youtube.com/watch?v=-IJoFq7Hk2s&t=42s.

[10] Sambandar, Hymne 1, Vers 1. Übersetzung: Indira Peterson, Poems to Shiva: the Hymns of the Tamil Saints (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1989), S. 270f.

Fähigkeiten

Gepostet am

Juli 21, 2022