Episode 4: Verborgene Länder

von | Jun 9, 2016 | 0 Kommentare

Eine meiner stärksten Kindheitseerinnerungen ist die rauchige Küche meiner Familie mit dem Lehmherd und einer Plattform unterm Dachsparren, auf der das Feuerholz lagerte. Hier wurde Gemüse geschnitten, Tee gekocht und unsere Nasenlöcher wurden schwarz, wenn wir das Feuer mit langsam brennenden Kiefernästen fütterten. Die Zweige wurden auch für die Herstellung von Lampen verwendet. Am wichtigsten jedoch war, dass sich die Familie hier zu den Mahlzeiten versammelte. Nach dem Essen erzählten die Erwachsenen Geschichten und die Gomchen erschreckten uns mit ihren Gruselgeschichten über Geister und Schatten. Dieselbe Geschichte konnte wieder und wieder erzählt werden, ohne dass der Erzähler oder die Zuhörer ermüdeten. Hin und wieder an besonderen Tagen zündeten wir eine Kerosinlampe an, deren Mechanismus uns Kinder faszinierte.

King Ugyen Wangchuk, 1905

König Ugyen Wangchuk, 1905

Lhasa, Regent Gyeltshap Reting Rinpoche

Herrscher Gyeltshap Reting Rinpoche

Ich erinnere mich deutlich an die gemeinsamen Mahlzeiten mit meinen Großeltern mütterlicherseits, Lama Sonam Zangpo und Dendup Palmo. Lama Sonam Zangpo konnte die besten Geschichten erzählen. Er war für sein fotografisches Gedächtnis bekannt und er erinnerte sich an alle Geschichten und Sagen. Seine Beschreibungen des Barts des ersten Königs von Bhutan, Sir Ugyen Wangchuk, oder wie gutaussehend und attraktiv der jugendliche Gyeltshap Reting Rinpoche[i]  war, als der 13. Dalai Lama ihn in das Jokhang Kloster geleitete, erweckten seine Geschichten zum Leben.

Mein Großvater war eine Schatzsammlung an Märchen. Ich versuche mich noch immer verzweifelt an eine bestimmte Geschichte zu erinnern, die er von einem Hund erzählte, der eine Emanation der Grünen Tara war und einen kleinen Jungen rettete. Ich erinnere mich lebhaft, wie der Hund den Jungen leitete, eine wunderschöne Blume im Maul, doch ich habe ein deutliches Gefühl, dass ich den Rest der Geschichte vermutlich nicht mehr zusammenbringe, bevor ich meinen letzten Atemzug tue.

Beinahe täglich hörte ich meinen Großvater von einem verborgenen Land murmeln, in dem er einst gelebt hatte und nachdem er sich immer noch sehnte. Seine Sehnsucht nach diesem verborgenen Land war sehr stark: Wenn wir Farn aßen, war er nicht so grün wie jener an dem verborgenen Ort. Keine Buttermilch war so köstlich wie sie es dort gewesen war. Beifuß, der anderswo wuchs, duftete bei weitem nicht so gut wie dort. Ganz besonders wehmütig machte ihn die Erinnerung an einen Pilz, der dort auf den Bäumen wuchs.

Meine einzige Erinnerung an das verborgene Land ist starkes Sonnenlicht, eine Veranda und vielleicht ein kleiner Gemüsegarten.

Im tantrischen Buddhismus gibt es unzählige unvorstellbare Methoden, um Weisheit zu entdecken – zum Beispiel indem man vollkommen verschwindet. Einer meiner eigenen Tutoren verschwand eines Tages und wir sahen ihn nie wieder. Es gibt die Methode, überzeugend Wahnsinn vorzutäuschen und alle gesellschaftlichen Normen aufzugeben. Ein anderer meiner Tutoren wählte diesen Weg. Dann gibt es die Methode Wacholdersamen behutsam zu pflücken, ohne die Zweige zu beschädigen und dann auf jegliche Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten bis auf die Essenz dieser Samen. Durch das Fasten entledigt man sich der Gewohnheit des Mampfens, Stopfens und Verdauens, legt Weisheit und Energie frei und gleicht Prāṇa und Nāḍīs aus. Mein Großvater Lama Sonam Zangpo war bekannt für diese Chulan Praxis. Er hatte bemerkenswert ruhige Hände. Ich erinnere mich, wie er in seinen späten 80ern fast damit prahlte, wenn er mit einem Pinsel aus zwei Haaren eine Keimsilbe auf ein Reiskorn malte.

Doch am bekanntesten war mein Großvater für die Praxis in verborgene Länder zu gehen. Im Vajrayana herrscht der Glaube, dass es überall verborgene Orte gibt. Es könnte sogar einen in der Bronx geben. Ich glaube, die indigenen Schamanen Amerikas wussten auch, wie man zu verborgenen Orten und Kraftplätze gelangte. Ich erinnere mich vage, in einem Buch von einem der Schüler von Don Juan etwas namens sitio gelesen zu haben.

In ein verborgenes Land zu gehen, ist das ultimative Aufbegehren gegen die samsarische Welt, es ist wie aus der Gesellschaft auszusteigen und sich einer Kommune anzuschließen, jedoch noch viel mehr als das. Guru Rinpoche beschrieb diese verborgenen Länder in seinen Unterweisungen. Einige sind erreichbar, andere nicht, leicht ist keines zu finden. Die Erreichbaren können ein Verfallsdatum haben. Einige verschieben sich oder wandern oder hören einfach auf, ein verborgenes Land zu sein, ganz gleich, ob jemand jemals seinen Fuß dorthin gesetzt hat. Wem es gelingt, ein verborgenes Land zu erschließen, muss dortbleiben, bis sich sein Zweck erfüllt hat, was ein paar Tage, einige Jahrzehnte oder einige Generationen lang dauern kann. Man kann seine Angelegenheiten also nicht langfristig planen.

Guru Rinpoche hinterließ verschlüsselte Führer und Karten zu einigen verborgenen Ländern, einschließlich der Methoden dorthin zu reisen, wo entlang des Weges eine Rast einzulegen, ob ein Feuer erlaubt ist oder nicht, wie die Zeichen zu lesen sind, ob etwa ein bestimmter Vogelruf einladend ist oder nicht, ob Kupfer oder Blei jenseits der Grenze erlaubt sind, wie das Verhalten der Blutegel zu lesen ist (die wie Wächter-Dakinis sind), sowie detaillierte Anweisungen, was zu tun ist, sobald man angekommen ist. Er sagte, es sei von unermesslichem Nutzen, in verborgene Länder zu reisen. Neben der Weisheit, die man dort erlangt, liegt ein unglaublicher Nutzen darin, nicht mehr länger in der von rationalen Gedanken begrenzten Welt zu weilen. Es braucht einen sehr besonderen Praktizierenden und sehr besondere Umstände, um die Codes zu dechiffrieren und die Anleitungen zur Erschließung des verborgenen Landes zu lesen. Die wichtigsten Voraussetzungen sind Motivation und Haltung. Ein zu rationaler und kritischer Feigling, der nicht den Wagemut besitzt, alle vertrauten Bezugspunkte hinter sich zu lassen, wird vermutlich niemals ein verborgenes Land finden. Neugier als Motivation reicht bei weitem nicht aus.

Auf dem Weg dorthin wird es viele Prüfungen geben. Selbst der beste Praktizierende kann ganz nahekommen und dennoch scheitern. Nach vielen Entbehrungen erblickten einige ein verborgenes Land, doch als sie für einen Moment wegschauten, war es verschwunden. Das hat es gegeben.

Lama Sonam Zangpo, my maternal grandfather

Lama Sonam Zangpo, mein Großvater mütterlicherseits

Mein Großvater hatte die notwendige Motivation, Zielstrebigkeit und Stärke für einen, der ein verborgenes Land sucht. Im Jahr 1951 begab er sich beherzt auf die Reise, um ein verborgenes Land zu erschließen, durch Eis und Stürme, Bambus und Schneematsch, entlang von Steilhängen und durch Täler, alles mithilfe eines Leitfadens, den Padmasambhava vor über 1200 Jahren hinterlassen hatte. In seinem Gefolge waren etwa 100 Menschen, die ihren Haushalt, ihre Häuser, Vieh, Höfe und einfach alles aufgaben. Im Grunde waren sie die ultimativen Hippies.

Der Ort, den mein Großvater fand, aufschloss und wo er sich niederließ, hieß Khenpajong, was das Artemisia- oder Beifuß-Tal bedeutet. Er blieb dort ein Jahrzehnt lang. Während er dort war, machte er einen tibetischen Bräutigam mit einer ausgeprägten Nase und Laune ausfindig und verheiratete ihn mit seiner stillen und meditativen Tochter. Aus dieser Paarung ging ich hervor und wurde in dem verborgenen Land geboren. Die Leute erzählen mir, dass meine Eltern ein Kind vor mir hatten, dass es jedoch bald nach der Geburt starb, weshalb ich vermutlich das einzige in Khenpajong geborene Kind bin, das immer noch umherzieht und einen CO2-Fußabdruck hinterlässt und zur Zerstörung der Welt beiträgt. Kurz nach meiner Geburt verließen alle Menschen Khenpajong. Das Artemisia-Tal wurde vollkommen aufgegeben.

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Bild von Nichols Roerich

[i] Jamphel Yeshe Gyaltshen (thub bstan ‚jam dpal ye shes rgyal mtsan) (Dagpo, 1910 – Lhasan 1947) war ein tibetischer Tulku und der 5. Reting Rinpoche.

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