Episode 6: Von Erinnerung und Eleganz

Erinnerungen sind nichts für erleuchtete Wesen. Erleuchtete Wesen erinnern sich nicht, weil es für sie keine Vergangenheit gibt. Vergangenheit – und damit auch Gegenwart und Zukunft – sind etwas für Wesen wie uns, die die Vergangenheit als Bezugspunkt verwenden und dann die Zukunft erwarten und voraussetzen.
Ich habe viele Erinnerungen. Ich bin aber auch sicher, dass ich viele Erinnerungen nicht mehr habe. Einige sind für immer verschwunden, andere warten in der Versenkung, um einfach vom Geruch von frischem Koriander hervorgerufen zu werden. Das ist sehr bedauerlich, weil es beweist, dass ich kein erhabenes Wesen bin. Doch zumindest jetzt ist die Erinnerung ein wichtiger Teil meines Weges.

Kurjey Lhakang. Foto von Tara di Gesu.
Nach fast drei Jahrzehnten betrat ich im August 2016 zum ersten Mal wieder die Kurjey Lhakang in Bumthang. Ihre Majestät Ashi Kesang Choeden Wangchuck, die heutige Königin-Großmutter, erbaute die Kurjey Lhakang 1990 an einem heiligen Ort in Zentral-Bhutan, der einst das Zentrum des Adels war. Bis in die 1950iger Jahre war es der Sitz der Wangchuk-Linie. Ihr Tempel ist ein weiteres Juwel in der wunderschönen Krone von Bumthang.
Die Haupthalle des Tempels ist groß genug für öffentliche Versammlungen, hat aber an einer Seite einen langen schmalen Gang unter freiem Himmel, wie eine Art Veranda, was typisch ist für bhutanische Tempel. Hier hängen in der Regel viele Glocken, die hin und wieder geläutet werden. Es ist nicht wirklich ein geeigneter Ort für ein Bett. Als ich jedoch diesen Tempel mit seiner speziellen Stimmung und eigentümlichen Geruch betrat, stiegen unmittelbar Erinnerungen in mir auf an Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche, wie er sich auf seinem Bett auf dieser Veranda ausruhte. Er ließ sich oft wochenlang, manchmal monatelang dort nieder, während einige andere seiner Begleiter und ich in der Haupthalle schliefen und am Tag unsere Schlafmatten zusammenrollten. Aus der Perspektive eines verwöhnten Menschen war das eine unmögliche Situation, als ließe man sich in einem Nebenraum eines Banquetsaals dauerhaft nieder. Es gab keine Tür zur Veranda, die man hätte schließen können, kein Badezimmer oder gar ein Ensuite Bad. Es gab weder ein Regal noch einen Beistelltisch, keinerlei Annehmlichkeiten. Doch er aß dort und schlief dort, seine Kleider ordentlich gefaltet, er schrieb dort und empfing Besuch. Es gab nur einen dünnen Vorhang, der ohnehin fast immer offen war.

Es war schön, wieder in Kurjey zu sein. Ich hatte einige Monate zuvor einen persönlich verfassten Brief von Ihrer Majestät erhalten, in einem eleganten Umschlag mit Wachssiegel, in dem sie mir liebenswürdigerweise erlaubte, dort ein Drupchen abzuhalten. Obwohl sie immer sehr beschäftigt ist, schreibt Ihre Majestät alle Einladungen per Hand. Ich habe in meiner eigenen Korrespondenz versucht diese Eleganz nachzuahmen und musste bald feststellen, dass es sehr zeitaufwendig ist und viel Geduld braucht, weshalb ich natürlich aufgab. Mit dem Empfang dieses Briefes kam eine weitere Erinnerung hoch:

Der Palast von Dechencholing
Das erste Mal traf ich Ihre Majestät im Dechencholing-Palast in Thimphu, wo sie viele Jahre während der Regentschaft des dritten und vierten Königs (1953-2009) lebte. Die Begegnung war beeindruckend, weil ich erlebte, wie guter Geschmack aussehen kann. Dechencholing ist der schönste und eleganteste Wohnsitz in Bhutan. Viele wohlhabende Familien haben neuere, teurere Residenzen gebaut, aber diese sind oft protzig, überladen mit Schnitzereien und Wandmalereien und bis an die Decke vollgestopft mit Nippes aus Bangkok. Ich muss sagen, dass ich zutiefst befürchte, dass der bhutanische Geschmack niemals über Tand aus Bangkok hinauskommen wird. Es lässt mich jedes Mal erschauern.
Doch kaum betritt man den Palast-Garten von Dechencholing, berührt einen die Schlichtheit, wird der einzigartige bhutanische Charakter spürbar. Die Anspielung an einen englischen Garten mag ein Wink sein, dass die Bewohner dieses Ortes auch schon an anderen Orten, wie etwa dem Regent’s Park in London, lustwandelten. Bhutan hat keinerlei Tradition in der Anlegung von botanischen Gärten und öffentlichen Grünanlagen, weshalb sich Ihre Majestät anderswo inspirieren lassen musste, um ihren eigenen bhutanischen Stil zu kreieren. Ihr Garten hatte zusätzlich etwas Wildes. Ich erinnere mich deutlich an zwei Bärenjunge, die dort herumtollten.

Regent’s Park
Ich hatte das Glück, immer wieder von Ihrer Majestät eingeladen zu werden und es erfüllte mich jedes Mal mit großer Freude – ob allein oder in einer großen Gruppe, zum Dinner, Mittagessen oder Nachmittagstee –, weil sich alles in einer Art Ritual vollzog. Am Eingang begrüßte die Gäste ein lebensgroßes Portrait von Rigdzin Jatsön Nyingpo, einer der wichtigsten Schatzentdecker der Nyingma-Tradition. Viele Jahre später erfuhr ich, dass sie das Porträt auf Anregung von Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche in Auftrag gegeben hatte. Bevor ich Ihre Majestät überhaupt erblickte, herrschte bereits eine derartige majestätische Atmosphäre allein durch die Weise, wie sich die Menschen in Erwartung ihres Erscheinens verhielten. Zunächst kam mir (und allen, die mich begleiteten) ihr persönlicher Flügeladjutant in voller militärischer Montur am Tor entgegen. Obwohl ich ein junger Tulku war, nahm er sein Barett ab und statt seines üblichen Saluts neigte er seinen Kopf für einen Segen. Daraufhin führte er uns zur Palasttür, wo Ihre Majestät wartete.
Bei jeder Gelegenheit begrüßte Ihre Majestät die Gäste in Dechencholing persönlich und sprach mit jedem sehr einfühlsam. Sie ist mir als sehr schön in Erinnerung. Sie trug wenig Make-up und ihre Bluse und Schal waren stets elegant und schlicht. Ihr Diener reichte ihr einen Katag (zeremonieller Schal) und wir tauschten die Schals aus, wobei es ihr immer gelang, den ihren bescheiden unter meinem zu platzieren. Sie wurde in meinen Augen durch die Bescheidenheit umso majestätischer.

Sodann begaben wir uns ins Innere, wo die Diener allesamt barfuß waren. Ich finde, dass nackte Füße das perfekte Accessoire sind zum traditionellen bhutanischen Gho, den die Männer tragen. Einen handgemachten Gho mit Burlington Socken und Nike Turnschuhen zu kombinieren, ist einfach nichts für mich. Die Diener waren bestens geschult, sie bewegten sich geräuschlos durch die Gänge, während ich aufpassen musste, nicht auszurutschen, weil die Böden so hochpoliert waren.
Wir wurden weiter nach oben geleitet in ein prächtiges Wohnzimmer. Die Wände waren wunderschön mit traditionellen bhutanischen Pflanzenfarben bemalt, sehr dezent und nicht grell und pompös. Es gab weder italienische Sofas noch chinesische Beistelltische. Die Diwane und schlichten Tische, die sich im Raum gruppierten, waren allesamt traditionell bhutanisch. Die orangefarbenen Wände schmückten umwerfende, vollendet gerahmte schwarz-weiß Fotografien der königlichen Familie. Und in einer Ecke stand ein Buddha Shakyamuni Altar mit sorgfältig arrangierten Opfergaben, nicht einfach auf einem Haufen, sondern jede einzelne erlesen und genau platziert. Hier hielt Kyabje Dilgo Khyentse pujas ab. Manchmal war er sogar zugegen, wenn wir bei ihr zu Gast waren.
Ihre Majestät bestand darauf, dass ich auf einem bestimmten Divan mit Brokatbezug saß, und dann setzten sich alle anderen. Der erste Gang bestand aus traditionellem bhutanischem Tee mit Safranreis, die beide in Ebenholzschalen mit silbernen Löffeln serviert wurden. Unsere Schalen blieben niemals leer. Dann gab es bhutanische Corn Flakes, frittierter Puffreis, und andere kleine Snacks auf bangchungs (bhutanische Bambusschalen), vollendet in der Palastküche hergestellt, nichts, was man auf dem Markt kaufen könnte.
Das Mittagessen wurde entweder gleich in dem Wohnzimmer oder im Speisesaal serviert. Die Bediensteten kamen mit Tabletts mit Besteck, Geschirr, Gläsern und Servietten herein. Die Farben und Muster passten alle zusammen, und natürlich waren die Servietten gebügelt. Ihre Majestät ging durch den Raum, gesellte sich zu jedem Gast und erzählte interessante Geschichten. Sie sprach so leise, dass wir genau hinhören mussten. Und sie bestand immer darauf, dass ich viel esse. „Wenn du isst, bleibe ich gesund“, sagte sie, und so aß ich immer, bis ich pappsatt war.
Nach dem Essen gab es Kaffee oder Tee im Salon. Manchmal kam ich nur zum Tee in den Palast. Der englische Tee wurde sorgfältig zubereitet, von der Auswahl des Tees über das Service bis hin zum Milchkännchen und sogar dem Stövchen. Sie achtete immer darauf, dass die Bediensteten (Chhankaps) zuerst den Tee und dann die Milch einschenkten. Ich glaube, sie muss George Orwells Abhandlung über die Zubereitung einer guten Tasse Tee gelesen haben. Manchmal servierte sie frischen Minztee in kleinen, farbigen Gläsern. Alles, was sie tat, war von Eleganz geprägt – sei es bhutanische Eleganz, britische Eleganz oder eine andere Art von Eleganz. Eine solche bescheidene, zurückhaltende, raffinierte Eleganz ist in der heutigen Welt kaum noch zu finden.
Mir ist aufgefallen, dass es immer mehr chinesische und tibetische Neureiche gibt. Als ich vor einigen Jahren in Tibet war, traf ich einen Khampa, der ein Viertel seiner Zähne vergoldet hatte. Er erzählte mir, dass er darüber nachdachte, auch den Rest vergolden zu lassen, denn wenn man seinen Reichtum nicht zeige, würden die Leute auf einen herabblicken. Und als ich kürzlich nach Lhasa reiste, buchten die Organisatoren mir ein Zimmer im Intercontinental Hotel. Das Hotel war gigantisch. Die Toilette war fast so groß wie mein Haus in Bir. Die Chinesen scheinen vergessen zu haben, dass klein auch schön sein kann. Die Designs der Kaminsimse und Kronleuchter waren so überladen, dass sie schon fast kitschig wirkten. Aber ein Einheimischer erzählte mir, dass dies der beliebteste Ort für Tibeter, insbesondere für Ost-Tibeter, sei, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Die Menschen haben wohl unterschiedliche Arten, mit ihren Unsicherheiten umzugehen und ihr Selbstbewusstsein zu zeigen.

Ihre Majestät Ashi Kesang Choeden Wangchuck
Ihre Majestät legt Wert darauf, in allen Dingen elegant zu sein. Ihr Selbstbewusstsein ist zurückhaltend. Manchmal schickte sie ihr Auto, um mich abzuholen. Da ich sehr neugierig bin, drückte ich einmal auf die Play-Taste ihres Autoradios, um zu erfahren, welche Musik sie hörte. Es war ein Dvořák-Cellokonzert. Und sie gehörte damals zu den wenigen Menschen, die einen guten Geschmack in Sachen Film hatten. Sie besaß eine Sammlung von Filmen von Regisseuren wie Kurosawa.
Ich habe in der Gegenwart der Königinmutter sehr viel gelernt, besonders durch ihren Respekt und ihre Hingabe für Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche. Er lebte viele Jahre im Dechencholing-Palast. Selbst nach seinem Tod machte sie viele Niederwerfungen vor seinem Thron und betete zu Guru Rinpoche. Manchmal hörte ich ihr heimlich zu und stellte fest, dass sie meistens mit ihm sprach, als würde sie tatsächlich mit Guru Rinpoche oder einer Gottheit sprechen. Ich habe inzwischen gelernt, dies selbst zu tun, und meine Schüler auch dazu angeregt, denn bei all den komponierten Bittgebeten ist das echte Zwiegespräch so schön. Es ist viel persönlicher und manchmal besser als das Lesen einer poetischen Sadhana. Wenn man etwas auswendig rezitiert, plappert man irgendwann nur noch vor sich hin, man denkt nicht über die Worte nach.
Ich und viele meiner Kollegen zollen Ihrer Majestät weiterhin unseren ganzen Respekt, nicht nur weil sie eine Königin war, sondern wegen dem, was sie für den Dharma und für Bhutan getan hat und für das, was sie repräsentiert. Als ich die Ehre hatte, Ihre Majestät nach dem Drupchen im August wiederzusehen, weckte ihre Anwesenheit erneut all die kostbaren Erinnerungen an die Tage, als wir von Dilgo Khyentse Rinpoche so umsorgt und beschützt wurden. Ich finde, Erinnerungen können doch nützlich sein.
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